In einem meiner vorigen Texte ging ich bereits auf die Fragmentiertheit unseres Innenlebens ein. Einige Menschen, vor allem zum Beispiel die Grenzgänger und Steppenwölfe, nehmen diese innere Zwie- oder auch Mehrspältigkeit intensiv wahr, wohingegen sich andere ihrer fast überhaupt nicht bewusst sind.
«In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.»
– Hermann Hesse
Auf unserer Reise zur Ganzheit geht es darum, diese unterschiedlichen inneren Anteile kennenzulernen, also auch zu erfahren, und diese in Liebe zu integrieren. Für diejenigen, die noch nie bewusst ihre inneren Anteile erlebt haben, ist es vielleicht hilfreich, sich einmal zur Orientierung die Archetypen anzuschauen, was aber kein Muss ist, da es wichtiger ist, eigene Forschungen über die inneren Welten anzustellen.
Grob kann man sagen, dass wir in uns alle Anteile der bereits in diesem Leben erfahrenen Abschnitte unserer Reise tragen. Zum Beispiel das innere Kind, den inneren Teenager und den Erwachsenen. Darüber hinaus tragen wir auch alle die Anlagen der Mutter und des Vaters in uns, ganz gleich, ob wir eigene Kinder haben oder nicht. Dazu kommen der innere Heiler und der/die Weise sowie verschiedene Wächter. Dies reicht, denke ich, für den Anfang. Natürlich steht es jedem frei, seine inneren Anteile zu benennen oder nicht zu benennen, wie er oder sie möchte.

Diese inneren Anteile haben, wie alles in unserer Welt, zwei Seiten: Eine geheilte Version und eine ungeheilte, eine Schattenversion, welche sich in noch mehr Eigenschaften inklusive ihrer Gegensätze aufteilen. In ihnen liegen die Schlüssel und Geschenke, die wir für unseren weiteren Weg brauchen.
Zum Beispiel das innere Kind: In geeintem Zustand ist das innere Kind verspielt, kreativ, albern, vertraut, sorgenfrei.
Es gibt aber auch das trotzige innere Kind. Dieses verhält sich nicht sonderlich Erwachsen, ist unzufrieden mit der aktuellen Situation, ist aber bei weitem nicht so aggressiv, wie der rebellische Teenager. Der Trotz des inneren Kindes verfliegt schnell, es möchte eigentlich ganz gerne wahrgenommen werden, vielleicht auf den Arm genommen und beschwichtigt werden, damit es im nächsten Moment wieder an Bord ist und weiterspielen möchte. Der innere Teenager hingegen, der trägt richtigen Groll in sich, der möchte nicht auf den Arm (zumindest ist ihm das nicht bewusst), er rebelliert, hat vielleicht sogar die Impulse zu randalieren, der Welt endlich zu zeigen, was alles nicht stimmt und in seinem bisherigen Leben nicht gestimmt hat. Dieser Modus bleibt gerne eine gewisse Zeit aktiv (Stunden bis Tage) aufgrund seiner starken Energie. Er ist impulsiv und strahlt aus: Sieh mich nicht an, sprich mich nicht an, fass mich nicht an! Ich beiße zu! Das trotzige Kind verhält sich dagegen auch eher wie ein trotziges Kind, es stampft auf, schaut zu Boden, schmollt. Es ist eher quängelich als wütend.
Das innere Kind gibt es auch als verletztes Kind. In einer leichten Form von Traurigkeit kennen wir es, doch dieser Anteil geht tief und ist uns größtenteils verborgen. Er ist tieftraurig, trägt unausgesprochene Schmerzen und Einsamkeit in sich, oft auch Ohnmacht. Der Anteil, den wir selbst ganz früh in unserem Leben verlassen haben, der sich aufgab, um der Welt um ihm herum zu gefallen, um nicht verlassen zu werden. Das kleine Kind, das aufgrund der Stimmungen um es herum und anderer Ereignisse anfing tief in sich zu glauben, dass es wertlos ist.
Dieser Anteil ist gut versteckt, das heißt, schwer für uns zu erreichen, da es von Wächtern beschützt wird. Diesen riesigen Schmerz, sollen wir nie wieder fühlen. Aber wir erinnern uns, dass in jedem Schmerz auch Geschenk und Weisheit liegt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf den Weg zu diesem inneren Kind zu machen, um es samt seines Schmerzes und seiner Vitalität zu befreien, um die eigene innere Gespaltenheit zu überwinden. Auf der Reise begegnen wir den anderen Anteilen, lernen sie zu verstehen, zu fühlen und zu integrieren. Wir eignen uns die positiven Eigenschaften der Anteile an, die wir für die jeweils nächste Herausforderung brauchen und erweitern so stetig unsere Fähigkeiten und unser Bewusstsein.
Wie bei dem Kind gibt es auch in allen anderen Anteilen mehrere Aspekte. Die Mutter kann zum Beispiel liebend und nährend/gebend sein oder im Schattenaspekt überfürsorglich/abhängig oder streng und grausam.
Wir sehen hier, dass es sich um unterschiedliche Bewusstseinszustände handelt. Wenn das trotzige Kind oder der rebellische Teenager aktiviert wird, sind diese selbstverständlich nicht so reflektiert und umsichtig, wie der innere liebende Vater oder der Heiler, was Hermann Hesse wahrscheinlich mit den «Stufen» meinte. Wir selbst können uns aber über all diese Bewusstseinsstufen erheben, indem wir sie zusammenführen und am Ende größer werden, als die Summe unserer Teile. (Elisabeth Haich)
Innere Teams
Häufig ist es auch so, dass sich einige innere Anteile, mit ähnlichen Attributen sehr nahe stehen und dann auch gemeinsam auftreten. Genauso können innere Aspekte miteinander in (Dauer-)Konflikt stehen, weil sie unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und somit Attribute der eigenen inneren Welt nicht anerkennen wollen oder können. Es ist in dem Fall möglich, dass diese sich noch nie in deinem Bewusstsein begegnet sind. Ihre Energiequaliäten und Bewusstseinsstufen sind so weit voneinander entfernt, dass es auch körperlich herausfordernd wäre, beide zeitgleich zu halten.
«Denn eine Kraft bewusst zu erleben bedeutet, diese Kraft zu sein und sie gleichzeitig überallhin, also auch in den eigenen Körper, auszustrahlen. Folglich muss auch der Körper die entsprechende Widerstandskraft in sich tragen […].» – Elisabeth Haich (Zum Beitrag)
Das innere Kind kann zum Beispiel eine Menge Weisheit in sich tragen, versöhnlich und gerecht sein, ohne, dass es der weise Anteil ist, der alleinig aktiv ist.
Wenn wir viele oder sehr starke Konflikte in uns tragen, so wirken diese sich auf unser gesamtes Wohlbefinden, unsere Beziehungen und schließlich auf unsere Gesundheit aus, gerade, wenn sie unbewusst stattfinden.
Integration
All diese inneren Anteile, die wir als Stimmungen und Gedanken wahrnehmen und die sich in unserem Agieren und unseren Reaktionen auf Handlungsebene manifestieren, sind letztlich energetische Zustände. Denken wir uns die Gedanken und Handlungen weg, erleben wir nur Gefühle, Emotionen und Impulse, also Energien. Und jede Energie hat ihren energetischen Gegenpol, die andere Seite der Medaille, die im geeinten Zustand, im göttlichen Zustand, neutral wird, hier in der Dualität sich aber getrennt offenbaren muss. Über Elisabeth Haich’s zwölf Gegensatzpaare, die sie vor der Einweihung beherrschen lernen musste, schreibe ich an anderer Stelle ausführlicher, da es sich um Eigenschaften nicht um Anteile handelt. Im Moment ist erst einmal wichtig zu verstehen, dass die Aspekte unseres Innenlebens jeweils auch einen energetischen Gegensatz bergen, mit dem sich die jeweils andere Energie ausgleichen lässt: männlich - weiblich, nehmend - gebend, jung - alt, wütend - versöhnlich, geduldig - ungeduldig und so fort.
Noch einmal zur Erinnerung, je mehr Disharmonie wir in uns tragen, desto schlechter geht es uns.
Zunächst geht es wie gesagt darum, die Energiequalitäten der einzelnen Anteile zu fühlen, auch starke und unangenehme Energien, um das Bewusstsein und die Willenskraft zu stärken, sich nicht von ihnen zum Werkzeug machen zu lassen. Im fortgeschrittenerem Verlauf wird es möglich, das Bewusstsein weiter aufzuspannen, um immer stärkere oder auch mehrere Qualitäten zeitgleich wahrzunehmen und liebend im Herzraum zu halten. Sodass sich beispielsweise eine impulsiv aggressive Energie, die Mut und Selbstvertrauen enthält mit einer ängstlichen oder schüchternen Energie, die eher vorsichtig und überlegt ist, treffen und ausgleichen kann. So lösen sich die Schatten (Aggression und Angst) auf und es bleiben die positiven Aspekte der zunächst gegenteiligen Energien.
Die ersten Schritte – Kenne dich selbst
Wahrscheinlich scheint diese Phase des Prozesses für einige noch recht schwer greifbar, vor allem, wenn man sich noch nie mit inneren Anteilen beschäftigt hat. Denen, die sich dem Thema annähern möchten, gebe ich ein, zwei Möglichkeiten, wie man bei sich selbst anfangen kann, mit. Denn es braucht dafür kein großes Studium der Lehren anderer. Dafür brauchen wir nur uns selbst.
Fragen, die du dir stellen kannst, wären:
Wann habe ich mich das letzte mal, wie ein Kind gefühlt? Frei, glücklich, verspielt? In welcher Situation befand ich mich, wer war dabei? Kann ich diese Gefühle zurückholen und erforschen? Welche Gefühle und Eigenschaften tauchen dabei noch auf? Was macht diesen Modus für mich persönlich aus?
Kennst du auch verletzte Aspekte deines inneren Kindes?
Darf dein inneres Kind regelmäßig an deinem Leben teilhaben? Wie reagierst du, wenn es sich zeigt?
Wie fühlst du dich, während du das versuchst herzuholen? Spürst du eher einen genervten Teenager in dir, den das alles gar nicht interessiert und der das albern findet? Gut! Dann widme dich dieser Energie und ihren Eigenschaften.
Welche Anteile sind gerade noch da? Wenn wir so in uns gehen und forschen, kommen immer mehr Anteile zum Vorschein. Du erkennst sie an ihrer Reaktion. Vielleicht kommt ein Elternanteil, wenn der Teenager da war, der versucht zu schlichten/zu harmonisieren? Vielleicht fühlt sich das für dich auch nicht wie eine Mutter an, vielleicht eher, wie ein Heiler? Vielleicht spürst du eine Traurigkeit oder Sehnsucht nach diesen Momenten oder plötzlich große Lust, wieder mehr Zeit mit deinem inneren Kind zu verbringen?
Wichtig ist, die Anteile da sein zu lassen, sie zu erlauben! Also nicht den Teenager oder einen anderen Anteil wegzuwischen. Vielleicht kommt zum Teenager auch nicht die Mutter, sondern ein weiterer genervter Anteil, der ihn unterstützt. Erlaube ihn. Du bist neutraler Gastgeber, der einfach fühlt und erforscht, was sich dir zeigt. Du kannst wie in Punkt 1 natürlich jeden Anteil abfragen. Wann erlebst du mütterliche oder väterliche Aspekte in dir? Oder vielleicht den Heiler?
Eine andere Herangehensweise wäre zum Beispiel, dich zu fragen, wie du in herausfordernden (oder auch alltäglichen) Situationen reagierst und welche Eigenschaften sich dir dort offenbaren, um sie dann den Anteilen zuordnen zu können. Aber denk dran, das ganze passiert wertfrei, denn in jedem Anteil und jeder Eigenschaft liegt Weisheit, liegt Heilung. Du könntest dir ansehen, wie du dich fühlst und verhältst, wenn du enttäuscht wirst. Oder wenn du zu spät kommst, wenn du krank bist, wenn du gerade aufgewacht bist, wenn du verliebt bist, wenn du wütend bist und so weiter. Und wenn du das nächste Mal in eine solche Situation kommst, spürst und erkennst du diese Energie und dein Bewusstsein erinnert sich, was zu tun ist. Wenn du feststellst, dass du zum Beispiel in mehreren emotional bedeutenden Situationen eher negativ kindlich reagierst oder öfter aufbrausend als entspannt, und dir die für dich persönlichen Eigenschaften dieser Reaktionen bewusst machst, kannst du auch schnell erkennen, welchen Gegenpol es braucht, um deine Gemütszustände zu harmonisieren.
Durch das stetige Beobachten werden dir nämlich auch Momente auffallen, in denen du den jeweiligen Gegenpol spüren wirst, an den du dich dann in den anderen Situationen erinnern kannst. Du ihn also herholen beziehungsweise herstellen kannst.
Dir wird sicher auffallen, dass das keineswegs nur ein Ich ist, das in den täglichen Abenteuern des Lebens deine Gefühle und Gedanken kreiert. Gerade in Beziehungen zu unseren Mitmenschen erleben wir häufige Wechsel, da unsere Innenwelt mit der des anderen interagiert! Dies kann energetisch beflügelnd und eine gegenseitige Hilfe sein, oder wir verstricken uns in Abhängigkeiten und Dramen, aus denen wir nur wirklich herauskommen, wenn wir uns diese energetische Kommunikationsebene bewusst machen und Verantwortung für unsere eigenen Anteile und Bedürfnisse übernehmen.
Das wichtigste aber ist allem voran der Mut zum Gefühl. ♥ Das Ja zu deiner Heldenreise.
Ich hoffe, dass ich mit diesem Text ein bisschen Mut und Interesse am eigenen Innenleben wecken konnte. Es ist immer alles da! Wir haben die Quelle aller Energien in uns, wir sind sie. Und auf unserem Bewusstwerdungsprozess vereinen wir die unterschiedlichen Qualitäten wieder in ihren ursprünglich - göttlichen Zustand; die Einheit.
Alles Liebe,
Anna
Danke Anna. Alles klar bis dahin.
Natürlich bin ich ganz einverstanden damit, das Fühlen – das Herz, die Seelen"mitte" – als Seelen-Organ detailliert kennenzulernen, zu schätzen, zu pflegen, zu entwickeln, zu lieben. Wunderbar!
Gleichzeitig ist die Selbstverständlichkeit erschreckend, mit der das klare und eigenständige Denken und das vom Denken und Fühlen kontrollierte und verantwortete Wollen/Handeln zur Seite geschoben wird; salopp gesagt: Gefühle und Emotionen – was keine Synonyme sind – haben Hochkonjunktur. Wie oft hören wir: "Denk nicht so viel!" Dass du selbst ausgeprägt denkst und handelst, beweist ja dein Text; ohne Denken wäre er nicht entstanden, und ohne deinen Handlungswillen wäre er hier nicht publiziert. Dein Einschub "Wenn wir das Denken und Handeln einmal weglassen ..." [nur sinngemäß zitiert] wäre also gar nicht nötig.
Mein Vorschlag: Versuchen wir doch, die Denkkräfte und die Willenskraft gleichzeitig genauso zu entwickeln und zu schulen wie das Fühlen. Alle drei Seelenorgane haben es in unserer Zeit dringend nötig. Das Denken durch Meditation, das Fühlen durch Interesse und Hinwendung an die Welt wie an das eigene Innenleben, das Wollen durch erhöhtes Bewusstsein in den alltäglichen kleinen Handlungen.
In Verbundenheit
Bernhard