Ist der Weg das Ziel?
Über Sehnsucht, Heimweh und das Reisen. Gedanken inspiriert durch Gunnar Kaisers philosophische Selbstreflexion über sein Suchen nach sich selbst.
Am 25. Juli 2023, während seiner Reise durch die USA, teilte Gunnar Kaiser mit uns einige Gedanken zum Thema «Reisen» in Videoform, die auf Instagram und YouTube zu finden sind. Seine Ausführungen gebe ich im Folgenden in Gänze wieder und stelle im Anschluss ein paar eigene Überlegungen an, zu denen sie mich inspiriert haben.
Auf YouTube betitelte Gunnar sein Video mit den Worten «Fliehe ich vor mir selbst?»
«Warum reisen wir? Ja, ja, ich weiß schon: Reisen bildet, reisen öffnet das Herz, es erweitert den Horizont und wie Augustinus gesagt hat: ‹Die Welt ist ein Buch; und wer nicht reist, der liest nur eine Seite.›
Aber, ist es das wirklich? Wollen wir mit unseren Reisen nicht immer auch ein bisschen vor uns selbst fliehen? Unseren Leben entkommen, dem Wesentlichen entgehen? Sind all unsere Reisen – und sei es nur für ein Wochenende, sei es gleich für ein halbes Jahr, ob auf ferne Kontinente oder nur ins Naherholungsgebiet – eine mühsam kaschierte Anstrengung, endlich jemand anders sein zu können? Oder zumindest für eine kurze Gnadenfrist nicht mehr man selbst?
Sich selbst loswerden
Seit ich denken kann, reise ich so. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, mein Ich, mein Leben, das allzu Bekannte hinter mir lassen zu wollen. Ausbruchsversuche aus dem Gefängnis meiner Identität. Woanders zu sein, schien mir immer das Versprechen zu bergen, auch jemand anders sein zu können. Als könnte allein der fremde Ort, die unbekannte Stadt, der nie zuvor gesehene Platz in einem unbefleckten Irgendwo, als könnte diese Leere, diese Abwesenheit von Bekanntem, dafür sorgen, meine Vergangenheit, meine Identität, meine Zukunft, die Erwartungen, den ganzen Traum auszulöschen.
Aber warum? Nur weil die Leute hier ein wenig anders leben, als du es bisher getan hast, weil sie dich nicht kennen und sich daher noch kein Bild von dir gemacht haben? Das Bild, mit dem sie dich festhalten und ansaugen und verurteilen und einsperren. ‹Sich ein Bildnis von jemandem machen›, sagt Max Frisch, ‹das heißt, sich zu versündigen gegen das Lebendige in diesem Menschen›. Aber nur, weil man dich hier noch nicht verurteilt hat, denkst du, du könntest frei leben und du selbst sein?
Im Gegenteil. Das ist nicht mehr, als Flucht vor der eigenen Verantwortung, du selbst zu werden. Eine zum Scheitern verurteilte Suche nach äußerlichen Lösungen, anstatt den Weg der inneren Reflexion und des Alleinseins zu gehen, als Voraussetzung für die Entwicklung eines authentischen Selbst. Wer reist, lenkt sich nur davon ab, mit seinen eigenen wahren Ängsten, Zweifeln und inneren Konflikten sich auseinanderzusetzen.
Und wie heißt es in Gottfried Benns Gedicht ‹Reisen›?
‹Ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich: bleiben und Stille bewahren das sich umgrenzende Ich.›
Zürich, Havanna, San Francisco, New York, ein Ashram in Südindien, die Wüste von New Mexico: Ich habe immer nach diesem Ort gesucht oder dem oder den Menschen, die mir zeigen, wie man richtig lebt. ‹Wohlüberlegt leben›, wie Thoreau sagt, intensiv leben – aber vielleicht kann kein Ort, kein Mensch der Welt, mir diese Kunst beibringen und so lange ich nicht begriffen habe, dass die Antwort darauf allein in mir liegt, bin ich dazu verdammt, vor mir selbst zu fliehen, mich auf jeder Reise mitzunehmen, und mich gleichzeitig immer weiter von mir selbst zu entfernen.
Wie hat es Erhart Kästner – ja, Erhard, nicht Erich Kästner – einmal ausgedrückt: ‹Aber was kommt schon dabei heraus, wenn sie alle in fremde Länder zu reisen anfangen? Nichts; sie tragen ja doch wie die Zinnsoldaten ihr bisschen Standort mit sich herum›.
Was würde ein Philosoph tun?
Also von wegen, reisen bildet, reisen erweitert den Horizont. Das ist ein altes Thema, vielleicht so alt wie der Mensch selbst. Was würde ein Philosoph tun? Aristoteles hat halb Asien bereist, Montaigne ist bis nach Rom geritten, Nietzsche hat ein ganzes Wanderleben geführt. Kant dagegen ist in Königsberg geblieben und Heidegger in seiner Hütte im Schwarzwald. Auch hier also kein klares Votum: Du musst selbst entscheiden, ob das Reisen dich bildet, oder dich vom Wesentlichen ablenkt. Der Mystiker Bernhard von Clairvaux hat schon im 12. Jahrhundert geschrieben:
‹Du musst nicht über Meere reisen, musst keine Wolken durchstoßen und musst nicht die Alpen überqueren. Der Weg, der dir gezeigt wird, ist nicht weit. Du musst deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegen gehen.›
Seinem Gott ‹nur› bis zu sich selbst entgegen gehen. Und jede Reise wäre also nur ein Umweg von diesem einzig wichtigen Weg. Wir werden sehen, später mehr.»
– Gunnar Kaiser
Vielen zum tiefen Schmerz gab es «später» nicht «mehr». Gunnar begab sich am 12.10.2023 auf seine «letzte Reise».
Ein paar Gedanken möchte ich gerne mit euch teilen. Natürlich nicht in der Absicht, Gunnars philosophischem Können gerecht zu werden oder der Erwartung, seinen Gedankengang zu Ende zu führen, sondern einfach meine persönlichen Gedanken, die durch seine Worte über das Reisen in mir angestoßen wurden.
Reise ins Innere
Gunnar verstand sich, wie kaum ein zweiter, darauf, seine wundervollen Gedanken auf mehreren Ebenen auszudrücken. Er philosophierte und nahm dazu sein eigenes Ich, seine eigene Geschichte heran und verwandelte anhand von Selbstreflexion Erzählungen der Selbstkritik oder Selbstinfragestellung in philosophische Gedanken. Des Öfteren hatte ich den Eindruck, dass es Menschen gab, die jeweils nur eine der Ebenen sahen – meist die offensichtlichere, die Geschichte, die Worte an der Oberfläche, man kann vielleicht sagen, die «Fehler», die Gunnar von sich offenbarte. Doch wird dabei übersehen, wie tief er innerlich genau dafür, dass er die selbstkritischen Geschichten erzählen konnte, gegangen ist.
Bei diesen Gedanken, die Gunnar mit uns über das Reisen teilt, scheint es nahe zu liegen, spontan sagen zu wollen: «Ja, genau Gunnar, reise ins Innere, da sind die Antworten!» Doch wo war er, wenn nicht im Inneren, um diese Gedanken teilen zu können?
Aber was bedeutet es eigentlich, ins Innere zu reisen? Es sagt sich leicht, es scheint eine, wenn nicht gar die Antwort zu sein. Aber auch dieser Weg bedeutet Reise, beinhaltet eine Strecke, die zurückgelegt wird, zeigt sich in verschiedenen Orten, inneren Orten, Gegenden und Gebieten. Es ist ebenso ein Suchen; ein Suchen nach was? Nach dem Ich, nach Lösung, nach etwas anderem, als dem, was gerade ist, als dem, der ich gerade bin.
Auch im Inneren kann man sich verlaufen, sich verlieren, sich täuschen und vor sich selbst fliehen. Was genau suchen wir? Zu was zieht es uns hin und von was zieht es uns weg? In gleicher Weise, wie Gunnar sich fragte, ob er vor sich selbst fliehe, kann ich mich auf meinem inneren Weg fragen, ob ich nicht vor dem Leben fliehe? Ich war noch nie allzu gern unter Menschen oder auf Reisen, ich verspüre kein Bedürfnis danach, es strengt mich an und kostet Kraft. Aber wo genau ist der Unterschied zwischen uns und dem Leben? Zischen innen und außen? Ist es nicht genauso mutig, sich dem Leben zu stellen, das einen automatisch immer wieder auf sich zurückwirft?
Vielleicht ist es wichtig, egal, ob auf der Reise im Außen oder im Inneren immer mal wieder anzuhalten. Innezuhalten und zu schauen, was ich suche und, ob ich auf dem Weg zu etwas hin bin oder auf dem Weg von etwas weg, also auf der Flucht. Was ist dieses Ziel? Was ist dieses Ich, diese Authentizität? Diese Freiheit oder dieser Frieden, den wir vermissen und suchen?
Eine häufig genannte Weisheit besagt, dass alles, was ich suche, wohl nur im Jetzt zu finden ist und somit möglicherweise keines weiten Weges bedarf – oder? Irgendwie vielleicht auch wieder nicht. Natürlich kann ich im Frieden damit sein, dass es noch weh tut, dass es noch Angst macht, und soweit ich es kann, bin ich damit auch im Frieden. Gleichwohl zeigen sich im Prozess immer wieder die Grenzen, die Noch-Grenzen, die Momente der Ungeduld, der Ablehnung, die Momente der Noch-Nicht-Akzeptanz und somit wieder des Schmerzes. Diesen Schmerz gilt es wiederum zu akzeptieren, im Jetzt und Hier – und er bedeutet Wachstum. Darüber hinaus gibt es auch die Zukunft und den Wunsch, dass es irgendwann insgesamt seltener weh tut.
Ist der Weg das Ziel?
Ich bin mir nicht sicher, was damit gemeint ist, dass der Weg das Ziel sei. Wahrscheinlich kann ich da auch nur meine eigene Antwort drauf finden, da es sicherlich jeder auf seine ganz persönliche Weise versteht, aber ehrlich gesagt sehnt sich vieles in mir nach einem Ankommen, ähnlich, wie Gunnar es beschrieb und ich kann dennoch nicht genau sagen, was dieses Ankommen bedeuten würde. Ich sehne mich also vielleicht nach dem Unbekannten, das zugleich so viel Angst zu verursachen scheint.
Es ist vielleicht eine Sehnsucht danach, glücklich und friedlich zu sein, Liebe zu empfinden und mich geborgen zu fühlen, denke ich. Gleichzeitig sagt etwas in mir, dass das Geheimnis vielleicht wirklich sei, dass ich bereits da sei. Wir sind immer alle schon da, aber da wir es nicht wissen und uns nach etwas anderem sehnen, haben wir diese Ziele und diesen Drang zu reisen, in welcher Form auch immer. Wie ein Ruf, und auch ein Interesse, eine Neugierde, die da sagt: «Auch, wenn du meinst, dass du eigentlich schon «da» bist: vielleicht gibt es auch noch mehr?»
Ein innerer Drang nach dem Entdecken, Erforschen, nach Wachstum. Wie kann ich denn dann schon da sein, wenn jeder Seele der Wunsch nach Entwicklung inne liegt –ja, wie viele sagen, sogar dem unendlich expandierenden «göttlichen» Bewusstsein eigen ist? Ist nicht dann vielmehr die Ansicht einiger Spiritueller, dass wir alle bereits angekommen seien, es nur nicht wüssten, ein Sich-Verstecken oder Abtrennen von dem Mehr an möglicher Erfahrung? Oder sind diese beiden Zustände nicht voneinander getrennt und genau das ist das, was dem Verstand so schwer fällt? Dass er immer trennen möchte und entweder – oder sieht, anstelle eines Ganzen? Ist das vielleicht gemeint mit «der Weg ist das Ziel»? Dass man während des Reisens ankommt, beziehungsweise angekommen reist und wächst? Oder anders, dass es kein Ziel gibt, kein Ankommen im Sinne von Bleiben?
Heimat
Obwohl – oder vielleicht auch weil? – ich ja eigentlich aus eigenem Antrieb nicht gerne in der Welt unterwegs bin, holte Gunnar mich immer mal wieder «hier raus» und wir gingen gemeinsam auf Reisen. Und in manch kleinen Momenten hatten wir schon das Gefühl, irgendwie, irgendwo angekommen zu sein. Es scheint ein innerer Ort zu sein, da es ein Gefühl ist und doch hat das Außen offenbar einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf unser Gefühl von Heimat. Manchmal erleben wir dieses Gefühl allein durch die Nähe eines lieben Menschen, manchmal ganz allein mit sich oder in Verbindung mit Tieren, in den Bergen, am Meer und manchmal im Blick hinauf zu den Sternen.
Womit kommen wir da in Kontakt, was ist es, das sich wie Heimat anfühlt? Frieden und Verbundenheit? Wenn etwas im Außen dazu fähig ist, uns dieses Gefühl zu geben, uns zu erinnern, auch, wenn es vielleicht letztlich das Gefühl unseres wahren Seins, unseres Selbst ist, ist es womöglich nicht «falsch» zu Reisen und zu suchen, sowohl innen als auch außen. Aber wie Gunnar schon sagte, das muss wohl jeder für sich selbst herausfinden. Entdecken, wonach er sucht und wie er die Verbundenheit zu seinem Ziel herstellen kann. Ob es das Ziel ist, sich dauerhaft heimatlich zu fühlen, oder ob es genügt, zu wissen, dass es das gibt und ab und an in diesem Gefühl zu baden und der Rest an Erfahrung, gern angenommene und geschätzte Ausflüge darstellt und das Erleben dieser, als Reichtum mit nach Hause gebracht werden kann.
Vielleicht aber denken und suchen wir auch zu sehr im Kleinen und müssten von einer anderen, einer höheren Ebene aus den Blick auf die Fragen richten. Somit wäre das Leben an sich eine Reise, so, wie wir den Tod auch geläufig als «die letzte Reise» bezeichnen. Und wer weiß, vielleicht ist es wirklich so, dass er es ist, und wir erst, wenn wir sterben, ganz in Frieden und Liebe ruhen, bei uns sind, uns selbst wiedergefunden haben, endlich gefunden haben, was wir während unserer Erdenreise vermisst und daher so sehnlichst gesucht haben. Dass das Physische, das Trennende, die begrenzende Perspektive des Menschseins uns als Seele manchmal so tief schmerzt und dass wir erst dann, wenn wir diese Hülle wieder verlassen, endlich wieder ganz zu Hause angekommen sind. Wer weiß..
Vielleicht geht es für mich im Weiteren darum, meine Zweifel an mir und meinem Weg, die Konstrukte von «richtig und falsch» samt deren Ängsten vor Fehlern hinter mir zu lassen und immer mehr zu vertrauen. Dann gibt es keinen richtigen oder falschen Weg mehr, sondern nur noch den Weg, meinen Weg.
Gunnar, ich hoffe und wünsche, dass du gut zu Hause angekommen bist. Du fehlst hier.
Liebe Anna, hab Dank für diesen wunderbaren Text, in dem du an Gunnar erinnerst... Gunnar hat sich mit seinem Wesen, seinem Sein und mit seinen Worten und Texten tief in mir verinnerlicht. Welch ein Segen, dass er jemanden wie dich an seiner Seite hatte. Ja, ich erinnere mich sehr gut daran, als er die Frage nach dem Sinn des Reisens und ob er dabei vielleicht vor sich selbst flieht, für sich zu ergründen suchte...
Dein Text, er beleuchtet so viele entscheidende Punkte.
Sehr in Resonanz gehe ich auch damit:
"Ich war noch nie allzu gern unter Menschen oder auf Reisen, ich verspüre kein Bedürfnis danach, es strengt mich an und kostet Kraft."
Genau so geht es mir. In jungen Jahren war das anders und ich bin viel gereist, war neugierig auf die Welt. Aber es hat mich immer auch angestrengt, ich fühlte mich erschlagen von den Eindrücken, zudem fast immer verloren an dem fremden Ort und nicht selten war ich froh, wieder Heimreisen zu können. Nur wirklich ZUHAUSE fühlte ich mich dort dann auch nicht. Und so machte ich mich wieder und wieder auf den Weg...
So war Reisen - neben der Neugier auf die Welt - für mich offensichtlich auch ein unbewusster Versuch, Heimat finden zu wollen.
Es ist schon seltsam, denn seit ich Heimat IN MIR gefunden habe und zudem viele Monate im Jahr an einem Ort leben darf, wo die Seele atmen kann, fühle ich mich angekommen. Das Reisen im Äußeren hat für mich vollkommen seinen Reiz verloren.
Ist nicht das Leben selbst die Reise? Jeder Tag ist eine Reise, 24 Stunden lang... Entscheidend unsere Wahrnehmung. Nicht wo wir sind, sondern WIE, mit welcher Bewusstheit wir unterwegs sind...
Kein Ziel, kein "Ankommen" im Sinne von Bleiben, nur ein SEIN.
Viel Liebe für dich, liebe Anna
Danke liebe Anna, ich liebe diesen Text von Gunnar.
Ich habe auch oft das Gefühl von getrieben sein. Wohin eigentlich? Wir rennen irgendwie alle durch dieses Leben....
Manchmal spüre ich, dass die Seele sich erinnern möchte und ich so ein Hauch von" ich bin nicht allein und an eine Quelle angebunden" spüre und dann ist es wieder weg, dieses beruhigende Gefühl.
Danke für deine Gedanken und JA Gunnar fehlt, auch wenn ich ihn " nur" von weitem " gekannt" habe.
Alles Liebe
Susanne