Im Nebel
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.
Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.
Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
Hermann Hesse
Dankbarkeit. Tiefe Dankbarkeit empfinde ich Hermann Hesse gegenüber, dass er für eine solche Bandbreite an von ihm erfahrenen Gefühlen und Bewusstseinszuständen stets so wundervolle Worte fand. Sowohl das Lichte, all die Liebe und Weisheit betreffend als auch für die «Dunkelheit», den Nebel und den Schmerz.
In ein paar Beiträgen, hier und auf YouTube, habe ich kürzlich etwas «Dunkelheit» von mir gezeigt und die – teils kontroversen – Reaktionen darauf waren sowohl interessant als auch überaus lehrreich für mich. Gleichwohl öffneten sich durch das Zeigen dieser inneren Erlebensbereiche an sich, neue innere Türen.
Aber was ist das «Dunkle» überhaupt und wie kann es einen, wie Hermann Hesse sagt, «weise» machen, wenn wir doch stets bemüht sind «Licht» – oder «im Licht» – zu sein, unsere «Schatten» in den Griff zu bekommen und das «Dunkle» womöglich sogar zu «bekämpfen» oder zumindest zu verstecken?
Gedanken, Emotionen, Taten
Was fällt dir bei der Frage, was «die Dunkelheit» sei, als erstes ein?
Vielleicht kommen dir Bilder von Gewalt oder etwas in dir sagt blitzschnell: Angst. Oder Krieg oder Hass. Möglicherweise meldet sich auch ein anderer Gedanke sofort, der Schmerz als Dunkelheit empfindet oder Wut, Ignoranz, Machtausübung über andere. Aber lasst uns mal als erstes bei uns selbst schauen: Was bezeichnest oder erlebst du in dir als Dunkelheit? Was sind deine sogenannten Schatten?
Vielleicht könnte man annehmen, dass es sich um Gefühle handelt, die uns unangenehm sind, die vielleicht so stark sind, dass sie uns dazu bringen wollen, etwas zu tun, das unserem eigentlichen Wesen widerspricht. Welche, mit denen wir uns rational nicht identifizieren wollen oder können. Starke Wut als Beispiel, die enorme Kraft hervorruft und zum Handeln drängt oder brennende Eifersucht, die sich wie etwas Fremdes anfühlen kann und einen gefühlt zerfrisst. Möglicherweise empfindet jemand auch Entscheidungsschwierigkeiten oder Verwirrung, fehlende Sicht und fehlenden Kontakt – also den Nebel – als dunkel, so wie es mir auch teilweise schwer fällt auszuhalten, meine nächsten Schritte nicht zu sehen, also wortwörtlich «im Dunkeln zu tappen». Das bedeutet, hier wäre es fehlende Sicherheit sowie eine gewisse Aussichtslosigkeit und, wie auch Hesse es ausdrückte, Einsamkeit. Isolation.
Gleichwohl kann es sein, dass wir etwas, das wir Dunkel nennen, auf mentaler Ebene als solches empfinden. Beispielsweise Gedankenkreisen, Zwangsgedanken oder Schreckensphantasien; auch hier etwas, das sich uns aufdrängt und wir nicht möchten zum einen und nicht als uns zugehörig empfinden zum anderen.
Das «Dunkle» kann sich also als Gefühl oder Emotionen zeigen, als auch in Form von Gedanken, Impulsen und letztlich Taten. Aber was ist sein Wesen, sein Ursprung? Im Grunde genommen ist es Energie, denn wie Emotionen sind auch Gedanken Ausdruck einer energetischen Schwingung. Aber gibt es «dunkle Energie» an sich? Oder ist es vielleicht sinnvoll zu sagen, dass jede Regung, die auf der Bewusstseinsskala nach Hawkins im unteren Bereich zu finden ist, «dunkel» ist?
Das wäre, meiner Meinung nach, etwas oberflächlich und pauschal. Jedenfalls empfinde ich für mich persönlich nicht jede unangenehme Empfindung als Dunkelheit und ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt, nämlich, dass jeder ein anderes Erleben hat und Dunkelheit für sich anders wahrnimmt und definiert. Dies stellt natürlich einen bedeutenden Aspekt bei der Frage nach «der Dunkelheit» dar.
Wachstum
Vor ein paar Jahren, als ich noch abgespaltener von mir war und mich noch auf einer generellen Flucht vor schwer auszuhaltenen Gefühlen befand, hätte ich wahrscheinlich noch eher zugestimmt, dass «negative» Emotionen in die Kategorie «Dunkelheit» einordbar wären. Wenn sich Gefühle der Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit zeigten, sehe ich mein damaliges Ich jetzt vor dem inneren Auge sich davor wegducken und abwenden. Es war größer als ich, mächtiger als ich und drohte, mich zu verschlingen – was es auch in gewisser Weise tat: Meine Außen- und Innenwahrnehmung veränderte sich, es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, ich bekam einen Tunnelblick. Es war mir kaum möglich, Alltägliches weiter durchzuführen, ich verlor den Überblick über das, woran ich glaubte, darüber wer ich bin, was ich kann und weiß und ich hatte Angst vor diesem dissoziativen Erleben, denn ich verlor mich tatsächlich darin.
Das oben beschriebene Gefühl, dass dies etwas Getrenntes von mir sei, etwas Bedrohliches, war in solchen Momenten oft präsent. Mittlerweile komme ich mit Traurigkeit und Schmerz als Emotion in der Regel gut zurecht, das bedeutet, ich bin in der Lage mit der Energie von Kummer in meinem Körper weiterhin meinen Tätigkeiten nachzugehen, gedanklich klar zu bleiben, mich auf Gespräche zu konzentrieren und vor allem gelingt es mir, die Traurigkeit anzunehmen, sie lieb zu haben und Mitgefühl mit ihr und mir zu empfinden, wodurch ich sie nicht mehr als dunkel wahrnehme. Ich nehme mir bewusst Zeit, sie und mich in den Arm zu nehmen und zu trösten, sie verschlingt mich nicht mehr.
Mir fällt aber auf, dass ich das mit anderen Erlebensformen aus den niedrigeren Frequenzbereichen noch nicht so gut kann, zumindest ab einer bestimmten Intensität. Diese empfinde ich teilweise noch als belastend, als sich mir aufdrängend und als Bild sehe ich mich hier wieder klein und abgewandt von ihnen, getrennt und in Angst vor der Lautstärke und Wucht. Wenn ich mich in der Vorstellung aber aufrichte, mich umdrehe und einfach da bin, sie auf mich zukommen und da sein lasse, fühle ich eine Stärke und Wärme in meiner Brust. Ich spüre, wie ich wachse und ruhig werde und ich erkenne, dass all das nichts Getrenntes von mir ist, dass es nur laut ist und angsteinflößend, weil ich es nicht haben will und es mir nicht zutraue. Weil ich Angst davor habe, trenne ich es ab und erfinde, ja erschaffe eine Dualität.
Ebenso wächst die Kapazität meines Körpers und meines Bewusstseins mit jedem Mal, da sich ein Gefühl oder eine Emotion als größer und mächtiger als mein bisheriges Fassungsvermögen zeigt und es mich – wie oben beschrieben – ab und an in die Tiefe saugt, sodass ich ähnlich intensive Erfahrungen und Energien ab dem Moment leichter in mir halten kann, ohne, dass ich den Überblick verliere; die Bereiche, die ich als dunkel empfand und empfinde, werden also stetig weniger.
Letztlich könnten wir alles, was unserem trennenden Geist widerstrebt oder unserer Moral, unserer Erziehung oder unserem Empfinden, all unseren Definitionen und Glaubenssätzen gleich, dunkel nennen. Aber jedem Dunkel, dem wir uns stellen, nehmen wir seine Macht über uns und entdecken das Licht und uns selbst darin. Wir transformieren also unseren eigens kreierten Schatten und holen ihn zurück nach Hause, bis alles, was dunkel schien, erhellt und als reine Erfahrung erkannt wurde. Es scheint mir daher für mich persönlich unstimmig, die Bewusstseinsskala oder jegliche Formen des Erlebens in «gut» oder «schlecht»/«böse» einzuteilen, es ist ein Bewusstseinsspektrum, das wir als Menschen erfahren können: es ist, wie es ist.
Und ich merke, dass je mehr ich all mein Erleben als Erfahren als solches nicht nur annehmen, sondern auch noch Interesse dafür entwickeln kann, es mir insgesamt umso leichter fällt. Wenn ich aufhören kann wegzulaufen oder das Erleben des Schattens «hinter mich bringen» möchte, damit ich endlich nur noch Liebe bin, und lerne, forschend anzunehmen, was ist und zu schauen, was sich hier Spannendes für mich verbirgt, desto weniger wird das Gefühl, irgendwo nicht vollkommen oder angekommen zu sein. Der Aspekt des Forschens zeigt sich auch in Hesses Gedicht, er beschreibt seine Wahrnehmung, man kann vielleicht eine feine Nuance von Neugierde heraus fühlen, zumindest scheint er nicht unter dem Nebel zu leiden oder ihn zu bewerten.
Somit wäre das Dunkle bloß etwas, was wir, dadurch, dass wir es ins Unterbewusstsein verschoben haben, verdunkelt und bewertet haben. Heilung oder Schattenarbeit bedeutet, diesem erneut zu begegnen, es aus dem Exil zu befreien und als mir Zugehöriges und Lichtes zu erkennen. Mich mitsamt dem vollen Erfahrungsspektrum anzunehmen und zu lieben; nicht erst, wenn es mir nur noch gut geht.
Man könnte nun vielleicht sagen, Dunkelheit sei eine Illusion, und das ist auf bestimmter Ebene sicher richtig. Ebenfalls ist es für mich richtig zu sagen, dass es die Dunkelheit gibt und – beziehungsweise weil – wir in der Begegnung mit ihr erst die Illusion auflösen können. Darauf zu beharren, sie sei bloß Illusion und wer Schmerzen erlebe, mache etwas falsch, kann hingegen spirituelles Bypassing sein, um nicht mit ihr, beziehungsweise schmerzlichem Erleben, in Berührung zu kommen. Schmerzen und unangenehme Gefühle gehören zum Leben dazu, wir sprechen nur nicht darüber.
Durch unsere Schatten zu gehen, kann uns nicht nur weise machen, es stärkt uns auch und erinnert uns. Nirgends habe ich sonst so viel Mut, Tapferkeit und Selbstvertrauen gefunden, wie in der Begegnung mit meinem Unterbewussten. Unsere (verdrängten) Schatten schwächen uns obwohl – und weil – sie unsere Stärke sind.
Ursprung
Wahrgenommen als Emotion, Gefühl oder gedanklich, erkannt als Teil des Selbst, fragt sich noch, wo denn der Ursprung all des als schmerzlich Erfahrenen liegen mag. Mit Sicherheit kann ich es nicht sagen, der Ursprung mag ein energetischer sein, eine einfache Frequenz, Teil des Ganzen sozusagen. Wobei ich auch schon davon gehört habe, dass sich ein Teil des (Gottes-) Bewusstseins bereits vor Äonen abgespalten und sich dazu entschieden hat, böse zu sein – hierzu kann ich aus meinem Erleben heraus nichts beitragen.
Auf menschlicher Ebene aber könnte man vermuten, der Ursprung sei vielleicht ein Trauma, woraus sich Glaubenssätze und schmerzliche Emotionen bilden, oder dass die Trennung vom Ursprung durch die Inkarnation auf der Erde – unser Vergessen, dass wir pure Liebe sind – als solches traumatisch ist. Aber was bedeutet das genauer?
Wenn ich tief in mich gehe und mich in den als dunkel erlebten Zuständen umsehe, und im Gesamten – auf das menschliche Erleben bezogen – den Finger auf einen Aspekt legen müsste, wäre es vielleicht der Zweifel. Der Zweifel daran, dass ich gut bin, dass ich okay bin, wie ich bin. Dass ich liebenswert und wertvoll bin, dass die Welt okay ist, wie sie ist.
Der tiefe Glaube an das Gute und Lichte, an Liebe und Verbundenheit und nicht zuletzt an uns selbst, ist unter anderem der, der durch Traumatisierung erschüttert wird und als im Unterbewusstsein abgespeicherter Glaubenssatz durch uns wirkt.
Neben Traumatisierungen gibt es noch weitere Gründe, die uns bereits früh veranlassen, an uns selbst zu zweifeln. Unsere persönlichen und gesellschaftlichen Ansichten, unsere Erziehung, Schule, die glattpolierte Oberfläche, all die Erzählungen von Benimm und Höflichkeit von richtigen, edlen und falschen, unreinen Empfindungen – auch in der «spirituellen Szene» – führten zu einer Scheinwelt. Durch diese haben sich zum einen enorm große Schatten all der unerwünschten und unterdrückten Gefühle gebildet, die sich gerade derzeit in gewaltigem Ausmaß entladen und zweitens empfinden sich viele – und gerade diejenigen, die sehr fein und facettenreich fühlen und ein großes Spektrum an Bewusstseinsebenen wahrnehmen – zunehmend als Außenseiter, als «nicht richtig».
«Nichts vermag der Mensch so zu lieben wie sich selbst. Nichts vermag der Mensch so zu fürchten wie sich selbst. So entstand zugleich mit den anderen Mythologien, Geboten und Religionen des primitiven Menschen auch jenes seltsame Übertragungs- und Scheinsystem, nach welchem die Liebe des Einzelnen zu sich selber, auf welcher das Leben ruht, dem Menschen für verboten galt und verheimlicht, verborgen, maskiert werden musste. Einen anderen zu lieben galt für besser, sittlicher, für edler, als sich selbst zu lieben.»
Hermann Hesse*
Beim erneuten Durchleuchten meiner inneren Räume also, begegneten mir Zweifel – oder spezifischer noch: Selbstzweifel – am Grunde vieler (vielleicht sogar aller?) «negativen» Emotionen und Gedanken. Während unter anderem Ängste oder Formen der Depression sowie Schuld und Scham relativ deutlich auf ihn hindeuten können, so tun es die Projektionen nach außen hin wie Wut, Neid, Eifersucht, Groll oder Machtgier eher erst beim genaueren Hinsehen, denn sie neigen oder dienen dazu, sich der Selbstzweifel zu entledigen.
An dieser Stelle führe ich keine tiefergehenden Beispiele auf, sondern lade euch dazu ein, selbst auf Forschungsreise zu gehen und zu erkunden, ob ihr auf ähnliche oder ganz andere Ergebnisse kommt. ♥
Selbstsicherheit oder der feste Glauben und das Vertrauen an uns selbst als wunderbare, vollkommene und liebenswerte Wesen ist im Umkehrschluss die Abwesenheit von (Selbst-)Zweifeln.
Aus der tiefen Unsicherheit heraus, glauben wir aber lieber an andere(s): an Gott, die Wissenschaft oder die Regierung als Beispiel oder vertrauen unseren Freunden, Lehrern, Chefs, Politikern oder Eltern mehr als uns selbst. Doch dieser Glaube kann erschüttert werden und durch die Erschütterung ziehen die Zweifel ein, oder vielmehr ist der Zweifel vielleicht eben die Erschütterung. Solche Krisen sind immer eine Chance, sich mit seinem Glauben und Vertrauen jemandem zuzuwenden, der wirkliche Heilung, Antworten, Sicherheit und Liebe bringen kann: uns selbst.
Denn wir sind das Licht und auch der Zweifel ist nicht falsch. Je mehr wir das erkennen, nehmen wir jeden Zweifel in uns auf, bis alle verdrängten Anteile sich ausweinen oder auch -toben durften in ihrer schmerzlichen Befürchtung, nicht gut genug, nicht richtig, unwert und ungeliebt zu sein.
Bitte lasse dir niemals sagen, dass du, deine Gefühle oder dein Erleben falsch sein. Du bist ganz und gar wunderbar, vollkommen und richtig, wie du bist!
«Wer nicht in die Welt zu passen scheint, der ist immer nahe dran, sich selbst zu finden» – Hermann Hesse
Alles Liebe,
Anna
* https://liebevoll.jetzt/blog/hermann-hesse-wer-lieben-kann-ist-gluecklich/
Herzlichen Dank für diesen äußerst tiefschürfenden Beitrag! Er bietet nicht zuletzt eine Erklärung für die Tatsache, dass es nicht eigentlich die Angst vor der Dunkelheit ist, die uns lähmt. Sondern die Furcht vor der eigenen Unendlichkeit.
🙏🏻❤️🙏🏻