Vom Widerstand zum spirituellen Erwachen
Eine Skizze des mehrstufigen Erwachens aufgrund gesellschaftlicher und politischer Krisen
“Widerstand als Weg des spirituellen Erwachens" lautet der Titel des im Sommer 2023 erschienenen Interviews von
und mit der leider mittlerweile verstorbenen Künstlerin Mary Bauermeister. (Das Interview findet ihr hier.)Der Artikel inspirierte mich dazu etwas näher darauf einzugehen, was es bedeutet, spirituell zu erwachen und was die Themen Krise und Widerstand, auch meiner Meinung und Erfahrung nach, damit zu tun haben.
Als Audioversion findet ihr diesen Text hier:
Foto: lukomotiv
Eine Krise, sei es eine innere oder auch eine äußere, dient gemeinhin als Weckruf.
Zu Beginn eines inneren Prozesses, dem “Erwachen”, schaut man zunächst erstmals über den eigenen kleinen und in dem Zusammenhang auch über den gesellschaftlichen, den Tellerrand-der-Massen, hinaus. Es ist, als würde man zum ersten Mal im Leben den Kopf aus dem Wasser strecken und mit großem Staunen - oder wie in Krisenzeiten möglicherweise auch mit großem Entsetzen - feststellen, dass da noch viel mehr ist, außer dem Leben unter der Wasseroberfläche, das man bislang als “Großes und Ganzes” betrachtet hatte.
Man bekommt ein Gefühl von Weite und Enge zugleich, denn auf der einen Seite wird einem bewusst, wie viel mehr es faktisch gibt, wie viele Möglichkeiten da sind, wie viel Freiheit, wie viel Luft zum atmen - und auf der anderen Seite erkennt man, wie klein und gefangen doch dieses alltägliche Leben, die alltäglichen Ketten, Dramen und Routinen doch sind. Eine Schwere legt sich ums Herz aufgrund der traurigen Erkenntnis, wie viele -und bisher man selbst ja auch- in einem hypnoseähnlichen Schlafzustand durch das Leben wandeln, betäubt vom Materialismus, von Eintönigkeit und Egoismus, als Wirtschaftswachstumssklaven gefangen in Spiralen von Konsum, Betäubung, Nachrichten und Meinungsmache.
Hier findet in dem Sinne ein doppeltes Erwachen statt. Ein Erwachen aus der Hypnose mit dem Blick in die Freiheit, die Wirklichkeit und gleichzeitig ein Erwachen in einen Alptraum hinein. Das mag auch eine Erklärung dafür sein, dass ein großer Teil eben gerade auch nicht aufwacht in Krisenzeiten. Möglicherweise zieht in ihnen etwas einen Schlafzustand dem Alptraum vor. Viele andere aber, nämlich die, die erwachen und sich dem "Alptraum" aussetzen, wurden also häufig durch die Krise selbst erweckt.
Während Krisen tritt gut Verborgenes zutage, und ein inneres Gefühl von Unstimmigkeit, ein innerer Weckruf genauer hinzusehen und nachzuforschen regt sich in diesen Menschen, sodass es leichter wird das Theater zu durchschauen, als in krisenfreien Zeiten. So findet man sich nun mit dem Kopf oberhalb des Sumpfes und fühlt sich allein und getrennt. In einem pocht der Impuls zu handeln, ja vielleicht sogar zu brüllen, die anderen heraufzuholen, sie wachzurütteln. Doch nur die wenigsten können einen dort überhaupt sehen oder hören. Man sieht die Welt mit anderen Augen, aus einer anderen Perspektive, die für die anderen an Verrücktheit grenzt. Man fühlt sich allein mit den Erkenntnissen, sieht, was andere nicht sehen, aber ist entschlossen, so vielen wie möglich diesen Blick zu öffnen. Ein Erwachen hat also, so man sich im gesellschaftspolitischen Widerstand befindet, bereits stattgefunden.
Im tobenden Widerstand gegen begangenes Unrecht zu sein, ist sowohl zunächst richtig als auch typisch menschlich, als sei es unentbehrlicher Teil eines großen Wachstumsprozesses. Der Mensch reagiert emotional, er empört sich, wird wütend, er wehrt sich.
“Und du kannst dich nur gegen etwas wehren, was dir bewusst wird. Was unterbewusst abläuft, dem sind wir alle ausgeliefert”,
erklärt Mary Bauermeister im Interview. Einige gehen den Weg weiter, hören weitere Weckrufe aus dem Inneren, andere verweilen zumindest vorerst im Aktivismus und in dem “Über-Wasser-unter-Wasser-Konflikt”.
Doch dem spirituell Erwachenden, der weitergeht, stellen sich nun immer mehr Fragen. Er hat erfahren, dass das, was ihm beigebracht wurde, und was er bisher gelernt und für wahr empfunden hat, genaueren Überprüfungen gar nicht standhielt. Ebenso ist das Grundvertrauen in die Quellen, aus denen er bis hierhin sein Wissen schöpfte, erschüttert. Das sogenannte Außen kann ihm in seinem Dilemma über das, was wahr und das, was nicht wahr ist, nicht helfen! Die Ahnung beschleicht ihn, dass es ein noch-weiter-oben, als den Rand der Wasseroberfläche gibt, einen noch klareren Blick, eine Perspektive, die ihm noch mehr Antworten bringen kann. Was ist der Sinn, wo kommen wir eigentlich her und wo gehen wir hin? Warum sehe ich jetzt, was ich vorher nicht sah und was sehe ich jetzt noch nicht, was ich vielleicht noch sehen könnte? Woher kam diese Klarheit? Wer war dieses “alte ich”, wer das neue, und was davon bin ich? Wer bin ich ?
Er beginnt Sinnhaftigkeiten zu hinterfragen, das Leben an sich zu hinterfragen und so öffnen sich ihm philosophische und spirituelle Pfade. Vielleicht studiert er spirituelle Konzepte und beginnt sich für Gebiete zu interessieren, die er möglicherweise in seinem bisherigen Leben belächelt hat, fängt an, spirituelle Praktiken auszuüben, wie beispielsweise Meditation, Yoga oder Atemübungen und lebt insgesamt bewusster. Im weiteren Verlauf wendet sich sein Blick mehr und mehr nach innen, weg vom Außen, weg vom politischen Widerstand und irgendwann auch weg von der Literatur. Er spürt allmählich, dass es mehr gibt, als weitergegebenes Wissen und beginnt nach Antworten in seinem Inneren zu suchen.
Hier beginnt die Metamorphose.
Spirituelles Erwachen ist ein Suchen nach Wahrheit, deren Fragen der Intellekt nicht beantworten kann, sondern nur die Erfahrung. Es ist eine Reise durch das Innere, durchs Unbekannte hin zu wahrer Authentizität.
Dem Suchenden wird bewusst, dass er im Widerstand in einer Kampfhaltung war, dass er aus seiner Überwasserposition sogar auf die anderen herab geblickt hat, besser war, weiter war, mehr verstanden hat. Und er erkennt, dass die Mechanismen, die er zuvor im Außen kritisiert hat, doch auch in ihm walten. In ihm gibt es ebenso wie in der Gesellschaft verdeckte Akteure, die sein Denken, Fühlen und Handeln aus dem Verborgenen heraus beeinflussen. Und auch diese Akteure, Teile des Egos, arbeiten mit Angst.
Er begreift das äußere und innere Geschehen nicht mehr als getrennt, sondern als Spiegel und als Lehrer. Er erkennt, dass wenn er dem Gegenspieler vorwirft, sich zu betäuben, zu schlafen, das “Wesentliche” nicht zu sehen, er sich mit dieser Haltung und seinem Verhalten ebenfalls etwas Wesentlichem entzieht. Und endlich fragt er sich selbst, was denn eigentlich das Wesentliche sei.
Ein erneutes Erwachen findet statt und wahrscheinlich kommen nun die äußeren Widerstandsaktivitäten zumindest zeitweise ganz zum Erliegen, denn es gilt nun zunächst vor der eigenen Haustüre zu kehren und in sich selbst aufzuklären, sich auszurichten und zu befreien.
“Es ist immer so eine Sache:”, sagte Mary Bauermeister.,
“Wie wirst du dir bewusst, über die nächste Stufe hinaus, welchen Ungeistern du dienst? Das ist ein spirituelles Aufwachen. [...] Die moralische Fähigkeit der Unterscheidung lernen, denn auch ich habe lange nicht unterscheiden können. Ich habe nicht an das Böse geglaubt. Bis ich erfahren habe, es gibt das Böse als Element, nicht als Sieger des Kampfes, sondern als etwas im Grunde Fantastisches. Es ist da, damit wir erwachen. Damit unsere Erkenntnis immer kristalliner und immer klarer wird, brauchen wir das. Ohne das Böse kann kein freier Wille entstehen, kann kein Mensch in die Ich-Findung finden. Wenn wir das nicht hätten, wären wir gar nicht Mensch – wenn wir nicht ständig diese Auseinandersetzung hätten, auch moralisch zu entscheiden.”
In dieser Phase des spirituellen Erwachens begegnet der Suchende sich selbst. In aller Schönheit und in aller Hässlichkeit.
Eine innere Instanz weiß genau, wo man sich befindet, und sie möchte einen wecken, sie möchte einen heilen. Auch wenn es sich vielleicht gerade in dieser Phase nicht so anfühlt, ist der spirituelle Prozess ein Heilungsprozess. Also zeigt sich ganz von selbst, was Heilung benötigt. Verletzungen, Traumata, Ängste und Glaubenssätze werden an die Oberfläche gespült, er wird gnadenlos konfrontiert. - “Licht und Liebe”, wie es sich viele zur derzeitigen Parole machen, ist nirgends in Sicht. Er findet sich eher inmitten einer neuen Krise, und zwar in der ganz persönlichen Lebens- und Glaubenskrise. Abwehrmechanismen kämpfen wortwörtlich um ihr Überleben, halten dem Druck, dem Heilungswillen aber immer weniger stand und die Wunden öffnen sich. Alles schreit. Das kleine Ich, das sich mit all dem konfrontiert sieht, das eben gerade doch noch den Überblick hatte, versinkt im Chaos. Wer bin ich?
In diesem Hausputz muss alles Alte raus und wie es schön heißt “alles verbrennen, was nicht Liebe ist”. Alte Strategien zur Ablenkung oder Betäubung greifen nicht mehr, neue gibt es nicht. Auch der Widerstand, den er zuvor noch auf der Straße, der Bühne oder im Netz gelebt hat, versagt für die innere Krise gänzlich. Gegen wen will man denn in sich auch Widerstand leisten?
“Wir müssen das Böse umarmen. Wir können es nur in Liebe auflösen. Sobald wir gegenhassen oder Angst entwickeln, sind wir schon Teil des Ganzen.” - Mary Bauermeister
Erst im eigenen inneren Konflikt wird es richtig bewusst, wird es ernstlich erfahrbar, dass Kampf bedeutet, dass es einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Sobald wir gewinnen, verlieren wir auch..
Der Verstand sucht weiterhin verzweifelt nach Auswegen, er versucht den Schmerz zu kontrollieren und wieder zu verbannen. Es ist ein unsäglicher Konflikt zwischen Verstand und Schmerz, zwischen Gedanke und Emotion. Zu mindestens einem Zeitpunkt findet sich hier wahrscheinlich jeder, auch der, der zuvor noch so rational war, im Gespräch mit Gott wieder. Der Verstand fällt von seinem Thron und neue, unbekannte Wege gilt es zu beschreiten, denn Loslassen wie Festhalten kann man nicht mit dem Verstand, es ist ein Zustand, eine innere Haltung, eine Energie, die fließt oder nicht.
Und Je mehr es gelingt, den Widerstand loszulassen und erkannt wird, dass Kampf nicht die Lösung ist, schauen wir in Liebe den Dramen im Inneren zu ohne daran teilzunehmen, heilen die Schmerzen die aufkommen, in dem wir sie da sein lassen, ihnen Raum geben, sie erlauben und Ja sagen. In der scheinbaren Passivität werden wir aktive Mitheiler all der alten Wunden und verbannten Schmerzen. Hier gelangen wir auch zu wundervollen Gefühlen und neuen Einsichten. Ohne Widerstand ist der Erwachende in Verbundenheit und Mitgefühl mit sich - und dem Außen, da er sich in der Welt wiedererkennt und die trennenden Begrenzungen, die nichts anderes sind als Widerstand, ablegt. Sein Bewusstsein erweitert sich und der Zugang zu innerer Weisheit und Intuition wächst. So erkennt der Erwachte, dass ein Ja zu den Geschehnissen mehr Freiheit und Leichtigkeit bringt als ein Nein. Und dass die Regel gelten muss: Wie im Innen, so im Außen.
Es ist kein Ja gemeint im Sinne von blindem Gehorsam, aber ein Ja im Sinne von Weite, von Offenheit im Gegensatz zu dem eng machenden, starren Nein, das nicht fließen kann, das nicht offen ist, nicht das Negative aufnehmen und in sich umwandeln kann.
Das Ja ist lebendig, ist verbunden und heilt. Das Ja in einem selbst zu den chaotischen Emotionen und Zuständen erlaubt es ihnen, sich selbst zu harmonisieren. Das reflektierte, wohlwollende Ja im Außen wie im Innern schafft Raum für Lösungen.
Und ich möchte noch einmal betonen, dass dieses Ja kein blindes Ja-Sagen ist. Es ist eine innere Haltung. Ein fühlendes Herz kann sehr bewusste und deutliche Neins aussprechen, wenn es nötig ist. Der große Unterschied besteht zwischen einem Ja aus Liebe und einem Ja aus Angst sowie einem Nein aus Liebe und einem Nein aus Angst.
Das Ja bedeutet die bedingungslose Annahme von dem, was Jetzt ist. Denn nur wer akzeptieren kann, was jetzt ist, gibt dem Fluss die Möglichkeit seinen Weg zu finden, seine Energie zu transformieren und die dem Wandel innewohnenden Chancen zu entfalten.
Romano Guardini, Priester, Theologe und Religionsphilosoph schrieb um 1920 nach langem Hadern und Leiden ob des Untergangs der Kultur und Menschlichkeit in der technisierten Zeit der Massen in einem seiner “Briefe vom Comer See”:
“Allein es gibt ein Ja zu geschichtlichen Geschehen, das Entscheidung ist, weil es aus wissendem Herzen kommt. Das hat sein Gewicht.
Unser Platz ist im Werdenden. Wir sollen uns hineinstellen, jeder an seinen Ort. Nicht uns gegen das Neue stemmen und eine schöne Welt zu bewahren suchen, die untergehen muß. Auch nicht abseits, aus phantasierter Schöpferkraft eine neue bauen wollen, die gleich von den Schäden des Werdenden frei sein möchte. Wir haben das Werdende umzuformen. Das aber können wir nur, wenn wir ehrlich unser Ja dazu sprechen: doch zugleich mit unbestechlichen Herzen fühlen bleiben für alles, was darin zerstörend, unmenschlich ist.”
Der Erwachte gibt in Zeiten des Widerstandes all seine Liebe und Kreativität in den Wandel, ohne energetisch mit ihm im Widerstand zu sein. Er lässt sich emotional nicht verstricken- weder ängstigen noch empören. Somit widersteht er jeder Politik, die ihn klein halten oder instrumentalisieren will.
Der Widerstand ist wichtig, um Zeichen zu setzen, um aufzuwachen und aufzuwecken. Der spirituell Erwachende geht den Weg weiter, sich zu heilen und neu zu erschaffen, indem er letztlich lernt alle Widerstände aufzugeben, um dadurch automatisch den Fluss des Lebens wieder durch sich und sein Herz in die Gesellschaft und den Wandel fließen zu lassen, ohne dabei die Wichtigkeit und Richtigkeit jeder anderen Person in jeder anderen Phase dieses Gesamtprozesses schmälern zu müssen.
Wer also zu sich findet, seine eigenen Schatten in Liebe integriert, seine Wunden heilt, wer sein Herz im inneren Prozess transformiert in ein offenes, fühlendes, sehendes Herz, ist aktiver Mitgestalter und Mitschöpfer kommender Zeiten.
Wer seine eigene Zerrissenheit überwunden hat, kann anderen in ihren Prozessen helfen und Spaltungen, Gewalt und Hass beenden. Er sieht sich nicht mehr getrennt, als besser, weiter oder wacher, er ist verbunden, selbstbewusst, authentisch und Teil eines über die Begrenzungen des Verstandes und Menschseins hinaus reichenden, umfassenden Ganzen.
Schön, dass du hierher gefunden hast! Wenn ich dir helfen oder etwas in dir berühren konnte, freue ich mich sehr. Fragen und Anmerkungen kannst du sehr gerne in die Kommentare schreiben und wenn du magst, kannst du mich hier unterstützen. Vielen Dank :-) Alles Liebe, Anna
Perfekt auf den Punkt.
"Ohne Widerstand ist der Erwachende in Verbundenheit und Mitgefühl mit sich - und dem Außen, da er sich in der Welt wiedererkennt und die trennenden Begrenzungen, die nichts anderes sind als Widerstand, ablegt. Sein Bewusstsein erweitert sich und der Zugang zu innerer Weisheit und Intuition wächst. So erkennt der Erwachte, dass ein Ja zu den Geschehnissen mehr Freiheit und Leichtigkeit bringt als ein Nein. Und dass die Regel gelten muss: Wie im Innen, so im Außen."
Es gibt weit mehr Grenzen, die sich mit GRENZENLOS LEBEN auflösen.
Das Aufgeben des Widerstandes ist das Überwinden der ersten Grenze ...
Der Widerstand, scheint mir, ist unvermeidlich, denn der Mensch normalerweise identifiziert sich mit dem EGO-Strukturen ( oder Inhalten). Allegorisch gesprochen, der Gott hat die eigene Pläne mit uns, als unsere alle mögliche aufgeblähten Personen, das alles sind nur die Masken, die als ob mich ausmachen, aber die Wahrheit liegt genau dort, was hinter der Masken verborgen liegt. Das könnte enorm schmerzhaft sein. Aber es gibt keine andere Lösung, als weiter zu gehen. Oder?