Über-Empathie
Wenn wir uns im Gefühl verlieren - Ursachen, Auswirkungen und Lösungsvorschläge für über-empathisches Empfinden und Verhalten
Empathisch zu sein ist eine wichtige und sehr nützliche Eigenschaft, die viele in dieser Welt an so manchen Stellen zurecht schwer vermissen. Wer empathisch ist, hat nicht nur Verständnis mit anderen, sondern fühlt sie sogar. Verständnis bedeutet sich über die kognitive Ebene in jemanden hineinversetzen zu können, wer empathisch ist, fühlt den anderen direkt am eigenen Leib.

Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre in einer Welt voller Empathen zu leben. Es wäre schlicht nicht möglich einander zu verletzen oder Kriege zu führen, weil jeder alles selbst spürte, was er anderen antun wollte.
Leider und im wahrsten Sinne - schmerzlicher Weise - leben wir in einer Welt, die eher unter-empathisch ist. Viele wirken innerlich gefühlskalt, abgestumpft und suchen nach immer mehr Reizen, um überhaupt irgendetwas zu spüren. Als sehr fein fühlender Mensch ist das per se eine große Herausforderung, doch noch problematischer wird es, wenn jemand über-empathisch ist. Alles, was du denkst, was du sagen oder machen wollen würdest wird sofort innerlich abgecheckt, sozusagen durch ein Filterprogramm geschickt, ob es nicht irgendjemanden gäbe, den dein Verhalten auch nur im Ansatz verletzen oder tangieren könnte und du spürst dieses Gefühl direkt selbst. Es ist dabei egal, wie nah ihr euch steht oder ob dein Verhalten direkt mit dieser Person zusammen hängt, oder ob sie nur in dritter, vierter, fünfter Instanz davon “betroffen” wäre, so sie es denn überhaupt mitbekäme. Im Grunde ist dieses Abwägen noch kein zu großes Problem, denn sorgfältig getroffene Entscheidungen und verantwortungsbewusstes Handeln sind weise Tugenden und das Gegenstück dazu sind sehr unbewusste, unreflektierte Verhaltensweisen, die vielfach Verletzungen und Kollateralschäden verursachen, die, würde man sich etwas Zeit nehmen, um in sich zu gehen, vermieden werden könnten. Der Über-Empath beschneidet sich allerdings in seinem Selbstausdruck, indem er sich kaum noch bewegen mag. Er stellt die Gefühle der anderen stets über die eigenen und entscheidet sich übergroßzügig dafür, alle Last zu tragen, solange es allen anderen dabei gut geht.
Überempathisch zu sein bedeutet also, dass einen die Gefühle der anderen am eigenen Sein und Ausagieren seiner selbst hindern.
Da der Empath den anderen spürt, denkt er sich: “Lieber lasse ich den Schmerz bei mir, als dass ich zurück verletze und dann ja selbst den doppelten Schmerz spüre.” Hier zeigt sich bereits eine Angst, die dem Verhalten zugrunde liegt und sie scheint sehr verständlich. Die Angst vor noch mehr Schmerz.
Wenn wir aber genauer hinsehen, gibt es hinter dem Verhalten und der Wahrnehmung weitere gewisse Ängste und Glaubenssätze, die überhaupt dazu führen, dass man so viel mitfühlt und sich daraufhin versteckt.
Zum einen geht es um das Thema der übertriebenen Verantwortungsübernahme,
die in der Regel in der Kindheit geprägt wurde, und zwar dadurch, dass das Kind unbewusst die Verantwortung für die Stimmungen und Launen der Eltern oder der gesamten Familie übernimmt. Das kann dadurch entstehen, dass die Eltern aus bestimmten Gründen nicht in der Lage waren die Verantwortung zu übernehmen, sei es dass sie krank waren oder abwesend, oder in manchen Fällen reicht es, dass ein hochsensibles Kind in eine “normalsensible” Familie geboren wird, in der ganz “normal” bestimmte Gefühle verdrängt wurden, es Streitereien oder passiv-aggressive Verdrängungsmuster gab. Das Kind lernt hier einzustecken, da der Familie nicht bewusst ist, wie groß das Gefühlsspektrum des Kindes in Wirklichkeit ist und sie nur die Gefühle spiegeln können, die sie selbst kennen. Der Rest der kindlichen Empfindungen bleibt ungespiegelt und durch die fehlende Validierung stellt sich automatisch das Gefühl ein, nicht richtig zu sein und damit verbunden das Gefühl von Ablehnung. Da das Kind aber wie erörtert spürt, was es mit ihm selbst macht, wenn es andere ärgert, wenn Streit im Raum ist, mit ihm rau umgegangen wird oder es selbst mal “ausfallend” wird und der andere sich verletzt fühlt, wird es um aller Beteiligten und seiner selbst Willen intuitiv die Aufgabe des Friedenstifters und Harmonisierers übernehmen. Verstärkt wird das Ganze selbstverständlich, wenn es für ausfallendes Verhalten (Widerworte, Ausdruck von Wut oder ähnlichem) bestraft wurde oder in übergriffigen, missbrauchenden Verhältnissen aufwuchs. Noch einmal aber: es muss bei hochsensiblen Kindern keine physische oder psychische Gewalt oder eine schwer traumatische Kindheit vorhanden sein, um sich an dem “normalen” Umgang der Umwelt zu verletzen und die emotionale Verantwortung zu übernehmen.
Diese Kinder entwickeln feinste Antennen, die nach außen gerichtet sind und scannen unentwegt die Personen ihrer Umgebung und ihre Stimmungen und Bedürfnisse, um diese bestmöglich zu erfüllen. Dies führt wiederum zum Kontaktverlust zu dem eigenen Inneren, dem eigenen Ich-Kern, den eigenen Bedürfnissen und Grenzen. Die Grenzen sind nach außen hin weit offen, sodass das Ich-Gefühl verschwimmt. Und dadurch, dass diese Kinder ein Übermaß an Verantwortung übernehmen, das sie gar nicht tragen können, also immer wieder “versagen” müssen, laden sie eine enorme Menge an Schuld- und Schamgefühlen auf sich, die sie wiederum abarbeiten bzw. verdrängen müssen. Sehr früh entstehen hier innere Anteile, wie der Kritiker, der ihnen zwar in gewisser Hinsicht hilft ihr Soll zu erfüllen, sie aber auch weiter klein hält und das über-verantwortliche Verhalten festigt. In diesem Szenario wird schnell deutlich, dass ein solches Kind die eigenen Gefühle von Wut wahrscheinlich nicht lernt auszuagieren und diese abspalten und ins Unterbewusstsein verschieben wird.
Aus diesen inneren Voraussetzungen entstehen nicht selten im weiteren Verlauf psychische Kompensationsstrategien wie Essstörungen, Depressionen, Co-Abhängigkeiten, zwanghaftes Verhalten, Ängste, Perfektionismus bis hin zu Persönlichkeitsstörungen, weil das Zuviel an Gefühl nicht mehr bewusst ertragen werden kann.
Eine weitere Möglichkeit der kindlichen Psyche zu reagieren und sich zu schützen, gerade bei schwierigen familiären Verhältnissen, ist die Umkehrung all dessen, woraus narzisstische Anteile oder ganze narzisstische Persönlichkeiten entstehen können. Hier “entscheidet” sich das Kind dafür, dass es das alles nicht tragen kann und dass es nicht selbst “falsch” ist, sondern die anderen. Es konzentriert sich vermehrt auf sein Inneres, seine eigenen Bedürfnisse und Wünsche und überlässt das Außen sich selbst. Anstelle des “Erst-die-anderen-dann-vielleicht-irgendwann-ich” tritt “Erst-ich-und-dann-mal-sehen”. Ebenso kann es sein, dass die beiden Varianten sich abwechselnd, je nach Situation und Reizintesität sowie Trigger, in ein und derselben Person finden. In späteren Beziehungen finden sich die beiden Muster nicht selten wieder.
Was kann man tun, wenn man über-empathisch ist?
Obwohl das, woran man leidet, das Fühlen und Zu-viel-Fühlen ist, ist die Antwort hierauf: Fühlen.
Wir haben gesehen, dass die Hintergründe für Über-Empathie folgende sind:
übertriebene Verantwortung für andere
Schuld- und Schamgefühle
verdrängte Wut
Wertlosigkeit
Angst vor Ablehnung
verschobene/offene Grenzen
Im Unterbewusstsein laufen Programme ab, die davon überzeugt sind, alle Verantwortung übernehmen zu müssen, um nicht den Schmerz der Ablehnung, des Verlassenseins sowie der Scham und Schuld zu fühlen. Hier geht es um Glaubenssätze, die früh in der Kindheit entstanden sind. Kernarbeit ist hier das Bewusstsein darüber, wie diese Programme laufen und im Grunde schon, dass sie überhaupt laufen. Je genauer wir uns mit unseren Gefühlen beschäftigen, desto mehr stoßen wir auf diese Programme und können die Glaubenssätze dahinter aufdecken, fühlen, heilen, integrieren und ersetzen. Dem Glaubenssatz, für alle verantwortlich zu sein können wir als Erwachsene entgegenstellen, dass wir anderen sehr wohl zutrauen können, dass sie ihre eigenen Gefühle aushalten, so wie wir jetzt die Verantwortung für unsere verwundeten, abgelehnten Anteile übernehmen.
Mit den eigenen inneren Anteilen und Gefühlen zu sprechen, im besten Fall sogar laut, ist enorm hilfreich auf diesem Weg. Zum Beispiel:
“Liebes, ich sehe, dass du gerade wieder dich und deine Bedürfnisse versteckst, um es allen anderen so bequem wie möglich zu machen. Ich wünsche mir aber für dich, dass auch du dich leben kannst und sein darfst, wie du bist, weil ich dich liebe. Ich sehe dich und fühle dich und bin jetzt für dich da. Die anderen sind selbst für sich verantwortlich und ja, auch deine Angst spüre ich und deine Wut, ich fühle und halte dich, bis du dich sicher fühlst.”
Nicht minder hilfreich ist es, laut auszusprechen, was einem Angst macht oder womit man sich gerade in einem inneren Konflikt befindet - vor sich selbst oder auch vor einem guten Freund.
„Alles erscheint etwas kleiner, wenn es ausgesprochen wurde.“ -Hermann Hesse
Die eigenen traumatisierten Anteile zu fühlen ist essenziell, denn wer dem anderen nicht zutraut seine Gefühle auszuhalten, beispielsweise, wenn ich jemanden vermeintlich ablehne, weil ich “nein” sage, dann ist dies häufig eine Projektion. Wenn ich selbst meine Gefühle von Ablehnung und Verlassensein nicht auflösen also aushalten kann, “rette” ich die anderen und schütze sie davor, diese zu fühlen. Stelle ich mich diesen Gefühlen, kann ich die Verantwortung für den anderen mehr und mehr loslassen, und ihm ebenso zutrauen, mit einem Nein umzugehen- und auch ich lerne mit einem Nein umzugehen. Der Über-Empath muss dann nicht mehr allen alles recht machen, um sich selbst vor Ablehnung zu schützen!
Es geht also darum, die verdrängten Gefühle zu fühlen und die Glaubenssätze hinter dem Verhalten und den Gefühlen zu identifizieren und zu ersetzen. Kernglaubenssätze sind hier unter anderem:
Ich bin verantwortlich
Ich bin wertlos
Ich werde abgelehnt, wenn..
Es ist meine Schuld
Ich bin falsch/ fühle falsch
Um sich wieder mehr spüren zu lernen, ist es hilfreich sich mehrfach am Tag in stiller Umgebung selbst zu fragen, wie es einem geht und was man gerade braucht. Auch hier ist es sinnvoll das zumindest ab und an laut zu tun. Es hilft Vertrauen zu sich selbst und den verletzten Anteilen aufzubauen. Es kann sein, dass es einige Zeit dauert, bis wir es schaffen ein Bedürfnis zu formulieren, je nachdem, wie weit wir uns von diesen entfernt haben und wie viele Ängste sich darum aufgebaut haben. Geduld zu haben und mit dem Inneren Kind zu arbeiten ist hier besonders wichtig. Und wenn sich ein Bedürfnis regt sollten wir es natürlich auch umsetzen, soweit es geht und uns darüber freuen(!). Wenn es mal nicht direkt geht, können wir auch das nach innen kommunizieren und versprechen, dass wir es erfüllen, sobald es möglich ist. Hier geht es anfangs nicht darum, sofort den Gipfel zu erklimmen und zu erwarten, dass es gleich möglich ist, die eigenen Bedürfnisse vor die, oder auf Augenhöhe, anderer zu stellen. Kommen wir in eine solche Situation und es erscheint uns noch zu groß, ist es total in Ordnung, wenn wir uns verhalten, wie gewohnt, es aber direkt miterleben und beobachten. Das heißt, zu üben nicht aus dem Kontakt mit sich selbst zu gehen- die Hand des inneren Kindes nicht loszulassen.
Jede Bewegung unserer Seele, in der sie sich selber empfindet und ihr Leben spürt, ist Liebe. -Hermann Hesse
Eine weitere Übung dafür ist, sich mit dem Bewusstsein auf einen Punkt in der Brust oder dem Bauch (später vielleicht auch beide zugleich) zu konzentrieren und versuchen den zu halten. Das hilft im Kontakt mit Menschen den Fokus auf sich selbst nicht so sehr zu verlieren und üben kann man es immer und überall; beim Lesen, Schreiben, Fernsehen, Einkaufen, Spazieren,… Je öfter man das übt, desto einfacher fällt es dann, wenn man es braucht. Sich über die Füße mit der Erde zu verbinden ist auch eine gute Übung. Hier habe ich mich für Brust und Bauch entschieden, vor allem im Gegenüber, weil unsere Gefühle sich dort befinden.
Auf energetischer Ebene kann man sich in dem Moment, indem man wieder die Gefühle anderer fühlt (oder die vermeintlichen) vorstellen, wie Energieströme aus einem heraus ragen und mit der anderen Person verbunden sind. Mit dem Atem können wir diese zurückholen in unser Herz und uns auf unseren Körper konzentrieren.
Je mehr wir uns erarbeitet haben, wie unser Programm individuell aufgebaut ist und wir zu einem guten Beobachter geworden sind, der den Kontakt zum eigenen Inneren immer länger halten kann und mutig unseren verdrängten Gefühlen begegnen, kommen wir in die Phase der Umsetzung - des bewussten Durchbrechens der alten Muster im Außen. Das bedeutet, wenn wir uns wieder erwischen, dass wir für jemanden mitfühlen und unser Bedürfnis oder Selbstausdruck unterdrücken wollen, fühlen wir das ganz bewusst und tun das, was unserem Wunsch entspricht. Das kann zunächst sehr unangenehm sein, weil alles aktiviert wird, um das zu vermeiden und womöglich haben wir dann das Gefühl überhaupt nichts gelernt zu haben - aber das stimmt nicht. Auch hier hilft es, wenn wir den Konflikt dem Gegenüber mitteilen können. An dieser Stelle treten wir mutig einen riesen Schritt aus der Komfortzone raus. In Liebe fühlen wir auch das alles und wir werden sehen, dass es von Mal zu Mal einfacher wird, der Kontakt zu uns selbst immer besser und stabiler wird und dadurch, dass die alten Wunden durchgefühlt wurden, kehrt immer mehr Frieden und Entspannung ein. Natürlich geht es nicht darum, nun immer seine eigenen Bedürfnisse über die anderer zu stellen ;-) sondern darum, frei wählen zu können ohne darunter schwer zu leiden. Aber ich glaube, dass es einem Empathen gar nicht wirklich passieren kann, die anderen komplett aus den Augen und dem Herzen zu verlieren. Mehr geht es darum, sich auch selbst wieder -oder erstmals womöglich- im Auge und im Herzen zu haben.
Schön, dass du hierher gefunden hast! Wenn ich dir helfen oder etwas in dir berühren konnte, freue ich mich sehr. Fragen und Anmerkungen kannst du sehr gerne in die Kommentare schreiben und wenn du magst, kannst du mich hier unterstützen. Vielen Dank :-) Alles Liebe, Anna