«Die Trauer ist die Anerkennung der Tiefe unserer Gefühle.» – Hermann Hesse
Einen geliebten Menschen zu verlieren tut unbeschreiblich weh. Und mit unbeschreiblich meine ich unbeschreiblich. Es gibt kaum Worte dafür. Es ist, als würde man selbst sterben – und das immer wieder und über lange Zeit hinweg.
Laut der Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross verläuft Trauer in fünf Phasen: Leugnung, Ärger, Feilschen, Depression und Akzeptanz. Diese Reaktionen habe ich auch in mir erlebt, aber nicht wirklich in Phasen. Sie wechselten sich eher mehrmals täglich ab.
An dieser Stelle merke ich, dass ich mich wohl entscheiden muss, ob ich in der Gegenwart oder der Vergangenheit schreibe. Da ich aus Erfahrung, die vergangen ist, schreibe, entscheide ich mich für letzteres, ohne jedoch damit zum Ausdruck bringen zu wollen, dass der Trauerprozess nicht auch jetzt noch Teil meines Lebens ist. Und in gewisser Weise vermutlich immer sein wird.
Gerade in der ersten Zeit der Trauer wirbelte alles scheinbar wirr durch mich hindurch. Ich war zutiefst traurig, wütend, hatte unglaubliche Angst, ich war schockiert und wie gelähmt. Schmerzen des Bereuens, des Bedauerns und auch der Schuld setzten mich buchstäblich außer Gefecht, während ich «einfach» da saß und das alles beobachtete. Es liefen Erinnerungen wie Filme vor meinem inneren Auge ab und die Schmerzen schienen von einem anderen Stern. Niemals zuvor hatte ich Vergleichbares erlebt. Ich verbrannte innerlich, nicht fähig, das, was in mir war, in Worte zu fassen, obwohl ich in vollem Bewusstsein und recht klar erlebte, was sich in mir zeigte. Wozu auch? Keine Worte und kein Trost der Welt hätten etwas an meinem Erleben ändern können. Und noch weniger natürlich an der Tatsache, dass der geliebte Mensch nicht mehr hier ist und auch in der Form nie wieder hier sein wird.
Niemals. Das ist lang. Und in mir haderte es, diese Information überhaupt ganz in mich einsickern zu lassen. Tod und niemals sind Begriffe, die wir häufig benutzen, doch was sie bedeuten, habe ich erst erfahren, als ich mit ihnen konfrontiert wurde. Mein Innenleben muss dies offensichtlich in dosierter Form lernen. Lernen, zu begreifen zum einen und zu akzeptieren zum anderen. In dem Prozess liegt so viel Ohnmacht. Immer wieder mal schoss die Erkenntnis des Niemals oder des Verlustes wie aus dem Nichts in mich hinein und ich fiel augenblicklich in mich zusammen. Als verließe alle Kraft meinen Körper, wie durch einen Blitz getroffen.
Der Schmerz kommt «in Schüben», formulierte
so wunderbar treffend (hier). So erlebte und erlebe ich es auch jetzt noch. Manchmal gehe ich an einem Foto vorbei und mir wird warm ums Herz und ein Lächeln zeichnet sich auf meinen Lippen ab. Ein anderes Mal gehe ich an demselben Bild vorbei und eine große Welle an Schmerz schießt anscheinend aus dem Nichts durch mich hindurch.Nach ein paar Tagen merkte ich, dass dieser wirr scheinende Zustand, gar kein wirrer war. Es schien, als wüsste etwas in mir sehr genau, was es macht. Es zeigte mir Erinnerungen, führte mich durch die gemeinsame Zeit, die wir hatten, brachte ungelöste Themen hervor und mutete mir zielsicher das zu, was ich so ganz gerade eben noch ertrug, bevor ich bewusstlos wurde.
Dieses innere Programm war wie ein Fluss, der durch mich durch floss. Jegliche Versuche, mich abzulenken, ihn aufhalten oder zu sehr begreifen zu wollen, stoppten diesen Fluss. Jedes Mal, wenn ich aus ihm heraus trat, auch wenn es nur für wenige Minuten war, spürte ich, wie sich die Energien in mir stauten. Das einzige, was ich tun konnte – und auf bestimmter Ebene auch wollte – war, mich ihm hinzugeben und alles wegfließen zu lassen, was nicht Liebe war.

Das war mein Wunsch: Alle Erinnerungen, Gedanken und Gefühle zu bereinigen, ja zu heilen, die nicht Liebe waren. Und dieser intelligente Prozess half mir dabei, mir wie gesagt, immer so viel zu geben, wie ich halbwegs ertragen konnte. Unter anderem auch das Gefühl, es nicht ertragen zu können. Aber auch das gehört(e) für mich wohl dazu.
Auch der Körper trauert
Zwei, drei Mal habe ich gehört oder gelesen, dass es «bloß» das Ego sei, das trauert. Ich verstehe diese Aussage nicht ganz und mein «Ego» ärgert so eine Aussage auch irgendwie. Nein, es ärgert nicht bloß mein Ego, was das Ego in dem Fall auch immer sein soll, es ärgert sogar ein bisschen mein Herz. Nicht, dass ich nicht verstehe, dass viel Transformation des sogenannten Egos in einem schmerzhaften Trauerprozess stattfindet. Sondern weil die Aussage an sich, meinem Empfinden nach, herzlos ist. (Oder sein kann. Je nach Kontext natürlich). Es scheint mir einzig das abgespaltene Ego sein zu können, das so eine absolute Aussage einem Trauernden vor die Füße wirft, sich durch spirituelles Halbwissen meint, über eine unendlich menschliche Extremsituation stellen zu müssen. Trauer ist darüber hinaus nicht nur menschlich. Auch Tiere trauern. Elefanten und Gorillas beispielsweise scheinen ganze Trauerrituale zu vollziehen oder sogar ihre Verstorbenen zu begraben. Einige stark trauernde Tiere sollen sogar die Nahrungsaufnahme verweigern und ihren geliebten Gefährten folgen.
Aber zurück zum Menschen: Trauer ist nicht nur eine mentale Angelegenheit, sondern zudem auch ein sehr körperlicher Prozess. Wir kennen es wahrscheinlich alle, dass wenn eine bestimmte Person anwesend ist, sich die Stimmung im Raum ändert, entweder für alle Anwesenden oder aber für einen selbst, weil die Ausstrahlung dieser Person etwas bei uns bewirkt. Wir fühlen uns sicher und geborgen beispielsweise. Die Menschen, die uns nahe stehen, die wir in unser Leben lassen, denen wir uns zugehörig fühlen, passen in ganz einzigartiger Weise zu unserer eigenen Schwingung, was unter anderem das Miteinander so besonders macht.
Unser Körper spürt, dass eine gewohnte, wohltuende Frequenz fehlt. Sowohl der Körper als auch die Stimme, der Geruch und die Berührungen werden vermisst und es braucht einige Zeit, bis auch, ich sag mal, die «eigene Körperchemie» sich an die neue Situation gewöhnt und angepasst hat. Wann immer möglich, ist es auch aus diesem Grund wichtig, ganz behutsam, liebevoll und geduldig mit uns selbst umzugehen, während wir in einer solch schwierigen Lebensphase sind, auch wenn einem manchmal so gar nicht danach zumute ist. Auch in anderen Verlustsituationen habe ich es bereits erlebt, dass der Körper weinte. Und das meine ich tatsächlich so. Mental ging es mir in diesen Situationen teilweise recht gut, aber der Körper brauchte und braucht immer wieder mal den Raum, Gefühle auszudrücken und es ist in dem Moment nicht wichtig, ob der Verstand diese Gefühle nachvollziehen kann. Sie sind. Und sie dürfen sein.
Transformation
Auch gestorben ist in gewisser Hinsicht die Anna, die ich war, als ich mit demjenigen zusammen war. Natürlich kann ich noch in Gedanken scherzen und «Gespräche führen», unseren ganz eigenen Humor zurückholen, aber ja… da sind wir wieder bei dem niemals: niemals wieder in der Form wie früher.
In der Trauer liegt viel Schmerz und viel Abschied. Wir verabschieden den geliebten Menschen, und uns von all dem, was wir noch hätten erleben können. Wir verabschieden uns von dem Gewohnten. Wir werden nicht mehr angerufen, treffen uns nicht mehr, singen, lachen, tanzen nicht mehr gemeinsam, trösten und streiten uns nicht mehr. Wie oft wollte ich zum Telefon greifen, und etwas erzählen, etwas teilen, wovon ich wusste, das würde die Person freuen. So oft gab und gibt es Situationen, in denen ich mich unendlich gefreut hätte, könnten wir diese gemeinsam erleben und ich eben auch die Reaktion des anderen. Jedes Mal stieg wieder eine Kälte oder auch Hitze auf; die Erinnerung, die Leere. Das Gefühl zurückgelassen worden zu sein. Überfordert zu sein. Verloren. Nicht zu wissen, wer ich (noch) bin und wie es weitergehen wird.
Es geht darum, das Nicht-akzeptierbare zu akzeptieren und gleichzeitig versucht der Verstand einen Sinn zu finden. Vielleicht hilft hierbei auch das Herz, die Liebe und der Glaube.
Wir verabschieden das Gefühl, das wir hatten, wenn wir mit demjenigen zusammen waren. Und wir verabschieden uns von dem, der wir mit und durch diese Person waren. Trauer hinterlässt trotz der starken Emotionen zugleich eine große, teils beängstigende Leere und Stille. Einen Raum, der nicht ersetzt werden kann und auch nicht ersetzt werden will oder soll.
Es ist ein langer Prozess des Loslassens, der Konfrontation, des Schmerzes und des Verlorenseins. Doch zugleich ist es ein reinigender Prozess, eine tiefe Heilung, eine Neuwerdung. Aus dieser Phase heraus entsteht eine neue Anna. Die neue Version ist aber noch nicht ganz da, die alte aber auch nicht mehr. Anteile oder Aspekte kommen immer wieder durch, und sie fürchten, wenn sie gehen, geht womöglich auch die Erinnerung und Liebe an die im letzten Jahr verstorbenen geliebten Menschen. Auch, wenn ich das anders sehe, so ist diese Befürchtung dennoch irgendwo in mir und ich werde auch sie weiterhin fühlen, heilen und integrieren.
«Trauer ist die Umarmung des Schmerzes durch die Liebe.» – Hermann Hesse
Der Fluss der Trauer führt uns an innere Orte, die dort schon vor dem Tod des anderen waren. Sie führt uns in Gebiete der tiefen Schuld oder des Bedauerns, die möglicherweise bereits seit mehreren Leben überdauert haben. Ebenfalls führt sie uns in die Wut und Verzweiflung. Wären diese Orte nicht bereits in uns gewesen, könnte der Verlust sie nicht aufdecken. Versteht mich hier aber bitte nicht falsch, ich meine nicht, dass der Verlust uns dann gleichgültig wäre! Denn das Herz weint mit und der Verlust ist für sich stehend unfassbar traurig. Aber die anderen Emotionen wie Schuld oder Wut, die durch bestimmte Erinnerungen oder die schmerzliche Auseinandersetzung mit der Situation an sich aufgezeigt werden, die gehören uns selbst. Die Dinge, die – vielleicht auch unbewusst – zwischen mir und der Person standen, kommen an die Oberfläche und wir können auch jetzt noch diese Beziehungsthemen für sie und uns heilen. Darin liegt ein großer Zauber.
«Die Liebe ist der Schlüssel zum Verständnis des Lebens und des Todes.» – Hermann Hesse
Trauerarbeit ist vielleicht genau damit gemeint. Wir sterben und erneuern uns selbst. Wir heilen die Verbindung zum Verstorbenen und auch die zu uns selbst. Wir erfahren und heilen unsere Beziehung zum Leben, zum Tod, zum Universum.
Und dafür braucht es Mut, bedingungslose Liebe und Akzeptanz. Den Mut, um all die Gefühle, Emotionen und Gedanken zuzulassen, die sich zeigen wollen; und nicht in ein eigenes, abgehobenes, spirituelles Ego zu entgleiten, das sich jedem menschlichen Gefühl, jedem Vorwurf an «Gott» oder das Universum, jedem Festhalten wollen oder sich ungerecht behandelt zu fühlen entzieht, weil es ja «weiß» dass derjenige noch da ist und mit dem Tod lediglich der physische Tod gemeint ist. Das Wissen darüber ergibt sich aus dem Prozess und aus der Konfrontation – also aus der Erfahrung heraus. Wenn sich unter anderem im eigenen inneren Sterbeprozess zeigt, dass nur all das vergeht, was nicht Liebe ist.
Liebe brauchen wir, um mit uns selbst mitfühlend sein zu können und uns für all unsere, vielleicht auch manchmal unfairen und unzensierten inneren Reaktionen zu verzeihen, dem Universum zu verzeihen und auch der verstorbenen Person. In Liebe lösen wir auch die alten Schuldthemen auf und vergeben uns, was wir bereuen.
Akzeptieren dürfen wir alles, was sich uns zeigt. Ausnahmslos alles. Dazu gehört auch der Widerstand, auch, wenn es paradox scheinen mag. Es ist wichtig, den Widerstand zu erlauben, die Anteile und Gefühle zu fühlen, die da schreien: «Ich will das nicht!!!!!!» und mit all ihrer (unserer) Kraft aus tiefster Seele brüllen und strampeln, und sich dagegen wehren, dieses Niemals erfahren zu müssen, bis sie vor Erschöpfung aufgeben und die Akzeptanz auch in sie langsam und stetig einziehen darf.
All das in Liebe zu erlauben und zu erfahren, so wie unsere Seele selbst über uns steht, uns beisteht und hält, während wir unsere Erfahrung des inneren Sterbens machen, bis alle Erinnerungen entwirrt und in Liebe getragen werden. Bis alles, was an Glaubenssätzen, Ängsten, Scham, Schuld und Zorn hochgewühlt wurde, in Liebe integriert und geheilt wurde. Bis wir verstehen, wirklich innerlich in Gänze verstehen, dass sich dieses Niemals auf unser physisches Leben beschränkt. Bis aus der Ahnung, dass die geliebten Verstorbenen noch bei uns sind und uns unterstützen, ein Wissen wird.
«Die Liebe ist das Band, das die Seelen verbindet.» – Hermann Hesse
Das Geschenk, das wir erfahren, wenn wir uns diesem inneren Fluss nicht verweigern und an einem Ärger, einer Opferrolle oder dem gesamten Verdrängen festhalten, ist die tiefgreifende spirituelle Erfahrung von Leben und Tod. Von Transzendenz. Diese tiefste Transformation des eigenen Inneren, die Heilung alter Wunden sowie die Einstellung zur Welt, dem Leben gegenüber und die Auflösung der Themen zwischen der geliebten Seele und uns, lässt die Verbundenheit wachsen. Obwohl man manchmal, wie oben erwähnt, vermuten könnte, sie würde verloren gehen, gäben wir den Schmerz auf. Für einige Anteile ist es beängstigend, den Schmerz loszulassen, da sie glauben, der Schmerz sei die Verbindung zu ihren Geliebten. Das ist er nicht. Die Liebe ist die Verbindung. Und je reiner diese Liebe wird, also je mehr wir heilen, desto näher spüren wir auch ihre Seelen und unsere gegenseitige Verbindung, die über das physische Leben hinaus geht.
Trotz all der schweren Phasen bin ich mir sicherer denn je, dass sie bei uns sind, uns begleiten und uns zutrauen, eben genau diese Transformation hin zu ihnen zu bestehen, womit sie wiederum unserer Seele die Chance geben, sich zu entfalten und mehr Liebe und Bewusstsein in diesen Zeiten auf die Erde zu bringen. Und uns als Mensch geben sie die Chance, über uns selbst hinauszuwachsen und buchstäblich nach den Sternen zu greifen.
Derzeit verlassen immer mehr Seelen die Erde und geben den Hinterbliebenen die Gelegenheit, sich selbst in dem Trauerprozess in Liebe zu heilen und sich mit ihrem Bewusstsein nach ihren Geliebten auszustrecken und genau dadurch in ihre eigene Kraft und Größe zu gelangen.
Ich wünsche allen, die in der Vergangenheit, aktuell oder in Zukunft mit einem schweren Verlust konfrontiert werden, die Liebe, den Mut und das Bewusstsein darüber, die Geschenke dieser schweren Zeit zu erkennen und anzunehmen. Und auch in den dunkelsten Momenten zu wissen, dass ihr über alles geliebt werdet.
In Verbundenheit und Erinnerung an Papa, Gunnar und Rico ♥
Ich wünschte, ich könnte deine Gedanken weniger gut mit meinen eigenen abgleichen. Alles Liebe!
Danke für diesen berührenden Beitrag.