Nun, vielleicht ist es nicht ganz richtig zu sagen, dass Neid generell ein unterschätztes Gefühl sei. Richtiger sei es zunächst sicherlich zu sagen, dass ich persönlich Neid unterschätzt habe.
Kürzlich erst entdeckte ich, wie neidisch ich bin. Also natürlich war ich immer mal hie mal da neidisch auf jemanden oder etwas, das kennen sicher viele. Doch so richtig ernst nahm ich es bisher nicht. Ich erlebte Neid zumeist hauptsächlich in Form von Gedanken und wenn diese auftauchten, erinnerte ich mich daran, dass ich diese Gedanken transformieren und mich für die andere Person freuen könnte, wie ich es mal irgendwo hörte – was ich dann auch tat. Dachte ich. Ebenfalls war mir bewusst, dass Neid ein Zustand energetischen Mangels ist, also konzentrierte ich mich auf die Fülle und die Selbstliebe und die Wunden hinter dem Mangel.
Doch ich erkannte nicht, dass ich mir durch das, was ich über Neid gelernt hatte, auf den Leim ging. Neidisch zu sein ist kein «lobenswerter Zustand», gelinde ausgedrückt. Ich habe es, glaube ich, noch nie erlebt, dass jemand offen über seinen Neid sprach und dafür echtes Verständnis erfuhr. Neid ist etwas, das wir nicht haben oder sein wollen. Neid ist eine Sünde! Es ist nicht «richtig». Es ist so sehr nicht richtig, dass es offensichtlich ist, dass man etwas «falsch» macht, wenn man Neid empfindet, sodass ich dieses Erleben irgendwie von mir weg schob. Bypassing oder Verdrängung nennt man so etwas auch. Man «kennt» ja die Lösung, den Fehler und die Antwort. Und dieser Prozess findet im Kopf statt.
Interessant ist, dass es mir bei den anderen Gefühlen und Emotionen klar war, dass ich all das fühlen und bis zu Ende fühlen muss. Doch bei Neid bemerkte ich mein eigenes Bypassing nicht, vielleicht weil ich es gar nicht erst auf körperlicher Ebene gesucht habe, sondern er mir eher in Gedanken begegnete. Im Gefühl war es eher Traurigkeit.
Doch nun weiß ich mehr: Ich bin neidisch. Ich fühle es. Und diese Energie hat mein Herzzentrum ab einem gewissen Zeitpunkt zumindest zu Teilen blockiert. Als ich den blockierenden Druck fand und erkundete, bemerkte ich, dass das, was so drückt, Neid ist und ich erlaubte dem Gefühl zu sein und sich auszubreiten. Ein großer energetischer Brocken floss direkt ab. Binnen Sekunden wurde meine Brust weiter und weich. Ich musste wirklich staunen über diesen blinden Fleck und auch ein bisschen lachen. War es so einfach?
Nicht ganz. ;-) Seitdem erlebe ich das Gefühl häufiger und intensiver. Als hätte sich zwar ein Pfropfen gelöst, der aber anscheinend noch etwas im Gepäck hat – und das ist okay und sehr verständlich für mich. Jetzt erkenne ich das Gefühl direkt – manchmal ist es mit Anspannung, Traurigkeit, manchmal gar mit Ärger gemischt – und ich kann bewusst mit dem Gefühl sein und es integrieren. Es zeigen sich auch Erinnerungen, großenteils aus der Kindheit, in denen ich Neid empfand. Phasen meines Lebens, in denen ich nicht ich sein wollte, sondern jemand anderes. In dem Glauben, in der Hoffnung, es wäre einfacher, als (so wie) ich zu sein. In der Idee und der Beobachtung, anderen falle im Leben mehr zu, als mir. Einfach so.
Und auch wenn Mensch – oder gar Kind – sich nicht immer bewusst gedanklich ausmalt oder erzählt, man sei anders, oder nicht gut genug, dass man dies auch verdiene, so steht es doch hinter dem Gefühl. In dem Gefühl. Ein unsagbar trauriges, einsames, abgeschottetes Erleben kann im Neid zu finden sein. Möglicherweise eine Art Aussätzigkeit, Andersartigkeit, ja, auch eine gewisse Schuld und Scham.
«Neid und Eifersucht sind die Schamteile der menschlichen Seele.»
— Friedrich Nietzsche
Hier finden wir sogar eine doppelte Scham: Die, die eh in dem Erleben von Neid enthalten ist, also die Scham für sich selbst, und zudem die erlernte, ja womöglich sogar ererbte Scham darüber, dass man dieses falsche und sündige Empfinden erlebt.
Aufgrund des Nichtverstehens des Warum, mag die (kindliche) Psyche Erklärungen erstellen, die auf Kosten des eigenen Wertes gehen. Die ein Ersticken des Selbstwertes, der Selbstliebe und Lebendigkeit nach sich ziehen oder verankern können, weil eine Mischung an unverstandenen, multidirektionalen Gefühlen erzeugt wird, die keine Lösung finden für: Warum geht es den anderen gut und mir nicht? Warum sehen sie so glücklich aus? Warum lachen und spielen sie so frei? Warum spüre ich das nicht? Habe ich etwas falsch gemacht? Stimmt etwas nicht mit mir? Ich sehe die anderen doch, aber ich spüre sie nicht, ich komme nicht zu ihnen hin. Aber ich würde gerne…
Vor meinem Inneren Auge sehe ich durch die Augen der Kleinen, wie sie auf dem Schulhof in der Grundschule steht und die anderen beobachtet, während sie selbst versuchte, möglichst unsichtbar zu sein. Die anderen Kinder konnten so tolle Sachen und waren auch einfach toll. Die einen turnten, einige sprangen Springseil, andere, die «cooleren» Mädchen spielten mit den Jungs Basketball. Es gab die Mädchen mit hübschen Kleidchen und die mit zerrissenen Hosen. Ich wusste nicht, wer oder wie ich sein wollte oder wie ich war. Sie waren alle so leicht und hübsch und lebendig. Und ich wollte auch irgendwas können oder irgendwie dabei sein. Aber irgendwie konnte ich nicht. Ich versuchte stets mitzuhalten, anzuknüpfen, etwas zu lernen, mich zu ändern. Aber ich kam nie bei ihnen an.
Zugleich war mir recht früh bewusst, dass Neid nichts ist, wofür es Verständnis regnet. Sind wir ja, wie ich selbst heute auch sage, für unser eigenes Glück verantwortlich. Und doch ist es so wichtig, auf dem Weg dahin alles anzuerkennen, was sich in uns zeigt, was dieses Glück überlagert. Und derzeit ist es unter anderem die Erfahrung von Neid.
Neid trennt. Neid betont die Unterschiede, baut Gräben und zeigt den Mangel in uns. In steigender Intensität ist er recht unangenehm; von leichtem Druck bis brodelnd und brennend. Und dahinter, darunter die Schwere, die Einsamkeit, die Leere, die Trennung. Trauma.
Neid ist ein Tabu. Und unter anderem deswegen habe ich ihn wohl immer wieder weggeschoben und habe ihn als Gedankenkonstrukt gesehen, da der Neid gut versteckt war und ich das Gefühl zum einen noch gar nicht zuordnen konnte und zum anderen, weil ich mich auf das Verbindende konzentrieren wollte. Doch genau das hat nicht geholfen. Wie bei jeder anderen Empfindung, die wir uns weg-reden, ist es Verdrängung.
Nun weiß ich es besser. Jetzt spüre ich den verdrängten Neid und die Gefühle der jeweiligen Anteile dahinter. Und ähnlich wie bei dem Thema mit den Bindungen führt er mich zunächst gefühlt in die Trennung. An Orte, an denen Anteile schon sehr lange sehr einsam waren.
Und ich hole sie nach Hause. ♥
Vielleicht
Vielleicht ist Neid doch nicht nur von mir unterschätzt. Vielleicht haben wir als Menschen das Märchen der Sünde so lange mit uns rumgetragen, dass wir die Erfahrung dieser Erlebensform automatisch abwerten und verdrängen und womöglich dadurch eine ganz eigene, neue Wunde erschufen. So blieben wir vielleicht viel eher in der Trennung und forcierten diese sogar.
Vielleicht ist es an der Zeit, solcherlei Mythen und Traumata von «falschen Empfindungen», die wir in unserem Zellgedächtnis tragen, aufzudecken. Möglicherweise ist es gerade für Traumapatienten (oder Therapeuten) wichtig, sich mit dem Thema Neid und den mit ihm in Verbindung stehenden Gefühlen auseinanderzusetzen. Denn Neid scheint eine nicht zu vernachlässigende Rolle während der Heilung zu spielen; im Persönlichen, wie im Kollektiv.
Gerade aufgrund seiner trennenden Eigenschaften kann vielleicht nur Verbindung hergestellt werden, wenn wir uns diesen Gefühlen in Liebe hingeben. Und der Weg in die Verbundenheit führt durch unsere abgetrennten Gebiete.
Alles Liebe,
Anna
Neidisch auf dich für den Mut zu diesem schönen Text. ❤️
Ich danke dir für deine Selbstehrlichkeit und deinen Mut deine tiefen Tiefen hier zu teilen. Ich habe mich in vielen deiner Worte wieder erkannt. Ich danke dir für die Verbindung zwischen Neid und Scham, die ich bisher noch nicht erkannt hatte. 🙏🏻