Wem in seinem Leben Schmerz zugefügt wurde, wer sich ungerecht behandelt fühlt oder wachen Auges in der Welt umschaut, kommt wahrscheinlich irgendwann mit der Frage in Berührung, wie das alles noch einmal «gut» werden kann. Wie kann die Welt sich mit sich selbst versöhnen? Und wie kann ich es selbst schaffen, mich mit ihr und den Menschen, die schlimme Taten vollbringen, wieder in harmonischer Akzeptanz zu verbinden? Kann und will ich gewisse Gräueltaten verzeihen oder gibt es das «Unverzeihliche»? Und selbst wenn ich wollte, wie könnte mir das gelingen?
Perspektivwechsel
Wenn wir an dem Zorn über begangenes Unrecht festhalten, schauen wir in der Regel aus immer derselben Perspektive auf das Geschehen. Mal um Mal erzürnen und empören wir uns darüber, erzählen uns und anderen stets die gleiche Geschichte, die uns allerdings – ebenfalls ein ums andere Mal – wieder selbst verletzt. Das Destruktive holt uns so ständig wieder ein; wir sehen und fühlen das unschuldige Kind und empfinden Verachtung für die Täter.
Die Perspektive zu wechseln lädt uns dazu ein, das Geschehen aus anderen Blickwinkeln zu betrachten und unser Bewusstsein von der schmerzlichen Wiederholung zu lösen. Wir können einmal weit raus zoomen und einen spirituellen Blickwinkel einnehmen, beispielsweise aus Sicht des All-ein-Bewusstseins, das sich in unzählige Seelen teilt, von denen wiederum Milliarden derzeit auf der Erde inkarniert sind. Dieses eine Bewusstsein möchte jede auch nur mögliche Erfahrung machen und durch die Trennung – der Erschaffung der Dualität – kann es sich selbst aus diesen Milliarden Persönlichkeiten heraus erfahren, um zu lernen. Während dieser scheinbaren Trennung vergessen wir, dass wir alle eins sind, dass wir alle aus demselben «Stoff» gemacht sind und nach diesem Spiel hier auf Erden unsere Erinnerung zurückerlangen und unsere Erfahrungen zurück geben in die eine «Quelle».
Unser aller Reise geht letztlich darum, hier auf der Erde aus diesem Zustand des Vergessens zu erwachen. Um dies zu erreichen und all diese Erfahrungen machen zu können und uns auch unter widrigsten Umständen an unsere wahre Essenz, an die Liebe, erinnern können, braucht es auch Akteure, die die Dunkelheit verkörpern – denn nur so haben wir die Wahl, ob wir uns von ihr einnehmen lassen oder uns für die Liebe und das Mitgefühl entscheiden. Der Täter sowie das Opfer sind dabei stets Aspekte unserer selbst – im Innen wie im Außen – und jeder einzelne verändert die Welt, indem er Liebe und Mitgefühl oder Hass und Verachtung wählt.
Eine etwas rationalere Herangehensweise wäre zu schauen, was dazu führt, dass ein Mensch sich derart unmenschlich verhalten kann; also der Zugang über die Psychologie. Hier werden wir uns bewusst, dass jeder Täter auch einmal ein Kind war. Symbolisch sogar das Kind, mit dem wir jetzt im Beispiel mitfühlen und gleichzeitig heute als erwachsenen Täter verachten. Natürlich kann man hier einwenden, dass nicht jedes Opfer zum Täter wird, aber man kann ebenso anerkennen, dass uns bei dieser Haltung das größte Stück fehlt; und zwar die Geschichte desjenigen, die Jahre dazwischen, sowie jeder einzelne Reiz und jedes Detail der Umstände.
Wie viel Schmerz und Leid muss ein Mensch erfahren, bis er unmenschlich wird? Mit Einbezug aller Umstände und Faktoren, der psychischen Schutzmechanismen traumatischer Erfahrungen sowie fehlender Ausbildung sozialer und empathischer Fähigkeiten auch im neuronalen Bereich kann man auch auf diesem Wege Verständnis erlangen. Sichtbar wird hierdurch auch, dass emotionaler Schmerz über Generationen weitergegeben wird und es schwer ersichtlich ist, wo denn die eigentliche Ursache liegt. Auch hier wird erkennbar, dass nur jeder bei sich anfangen kann und Verantwortung für seine Heilung – und damit gleichzeitig die anderer – übernehmen müsste, anstatt auf die Suche nach dem oder der «Schuldigen» zu gehen.
Was bedarf eigentlich Vergebung?
Wenn es uns schwerfällt zu vergeben, also Groll und Verachtung loszulassen und Mitgefühl zu empfinden, ist es ebenfalls hilfreich, einmal hinzuschauen, worum es genau geht. Wenn es uns selbst betrifft, handelt es sich in der Regel um Schmerz, der uns willentlich, manchmal auch unbewusst, zugefügt wurde und den wir (noch) nicht loslassen können, weil er noch nicht verheilt ist. Darauf gehe ich später noch einmal ein. Oft geht es aber auch um uns unbekannte Menschen, von deren Verbrechen wir Kenntnis haben und deren Ungeheuerlichkeit uns aus der Fassung bringen. Es geht um Taten, die wir nicht nachvollziehen können, weder rational noch emotional. Wir meinen, selbst wenn jemand nicht spürte, was er anderen antut, so müsse er es doch wenigstens besser wissen. Das ist das, was uns Menschen ausmacht, mit anderen mitzufühlen und sie zu verstehen. Doch anscheinend gibt es Menschen, deren Persönlichkeit oder auch Psyche dazu absolut nicht in der Lage sind. Die keinen moralischen Kompass besitzen und keinerlei soziales Empfinden, denn sonst könnten sie bestimmte Taten nicht ausführen. Möglicherweise dissoziieren sie sie selbst so stark, dass sie für sie eine Normalität darstellen, sie sie entschuldigen beziehungsweise vor sich selbst rechtfertigen oder im extremen Fall keine Erinnerung mehr daran haben.
Uns erscheinen die fehlende Empathie sowie das fehlende Verständnis so fremd, dass wir es nicht nachvollziehen können. Uns fehlt die Nachvollziehbarkeit der Nichtnachvollziehbarkeit des Erlebens des anderen und erachten diesen dadurch als unmenschlich. Denn menschlich wären doch eben diese Fähigkeiten wie Mitgefühl, Güte, Reflexion, Warmherzigkeit, Verständnis und Liebe. Zugleich erzeugen wir hier aber einen Konflikt, wenn wir sagen: «Da diese Menschen sich so unmenschlich verhalten, soll ihnen kein Mitgefühl und keine Vergebung entgegengebracht werden, sollen auch sie nicht menschlich behandelt werden», wodurch wir uns aber selbst unserer Menschlichkeit berauben. «Aber der Täter hatte doch die freie Wahl, er hätte doch anders entscheiden können!» Ja, möglicherweise schon, aber jetzt haben wir die Wahl. Und wir haben viel leichtere Voraussetzungen dafür, menschlich zu handeln, weil wir gesunden Zugang zu unserer Empathie, Moral und unserer Ratio haben.
Hätte der Täter es geschafft, seinen Tätern zu verzeihen, würde er die Destruktivität, die er ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr in sich tragen oder verdrängen konnte, nicht an anderen ausagieren. Es ist ihm nicht gelungen, vielleicht sogar, weil etwas in ihm es für unmöglich hielt, Unmenschliches, das ihm zugefügt wurde, zu verzeihen. Aber uns kann es gelingen, diesen Kreislauf zu durchbrechen und uns nicht in ihn hineinziehen zu lassen; wir können dem «Dunklen» den Nährboden entziehen.
Manchmal nehmen wir an, würden wir das Unbeschreibliche verzeihen, bedeutete dies, dass wir es tolerieren oder gar gutheißen. Dem ist nicht so. Analog dazu habe ich manches Mal die Angst gehabt, würde ich aufhören, um meinen Freund zu trauern, bedeute dies, dass ich ihn nicht mehr vermisse. Auch das ist nicht richtig. Ich heile lediglich das, was mir Schmerzen zufügt, bis am Ende nur noch die Liebe bleibt. Und wenn wir verzeihen, ist es kein Gutheißen der Taten, es bedeutet ein Loslassen dessen, was uns damit verstrickt und das Destruktive nährt.
Mitgefühl beginnt bei uns selbst
«Daß ich dem Hungrigen zu essen gebe, dem vergebe, der mich beleidigt, und meinen Feind liebe- das sind große Tugenden. Was aber, wenn ich nun entdecken sollte, daß der armselige Bettler und der unverschämteste Beleidiger alle in mir selber sind und ich bedürftig bin, Empfänger meiner eigenen Wohltaten zu sein? Daß ich der Feind bin, den ich lieben muß - was dann?»
– C. G. Jung
Mit diesem Zitat beginnt Dan Millman das Kapitel «Das Gesetz des Mitgefühls» in seinem Buch «Die universellen Lebensgesetze des friedvollen Kriegers». Die weise Frau lehrt dem Wanderer das Gesetz des Mitgefühls und erklärt, es sei «eine liebevolle Aufforderung, über unsere begrenzte Sichtweise hinauszuwachsen», auch wenn die Last dieser Aufgabe zuweilen sehr schwer wiegen könne. Genau deshalb müsse man daran denken, dass sie bei uns selbst beginnt und wir «geduldig» und «sanft» mit uns, unseren Gefühlen und Gedanken sein sollten.
Um dem – noch skeptischen – Wanderer zu veranschaulichen, wie wir Mitgefühl auch mit unseren Gegnern empfinden können, bat sie ihn, sich an eine Auseinandersetzung zu erinnern, in der er zornig, neidisch oder eifersüchtig war und sich diese Gefühle noch ein mal zu vergegenwärtigen. Als er das tat, den Schmerz und die Wut wieder spürte, sagte sie zu ihm: «Und nun stell dir vor, daß der Mensch, mit dem du dich streitest, mitten in eurer erregten Auseinandersetzung plötzlich nach seinem Herzen faßt, einen Schrei ausstößt und zu deinen Füßen tot zu Boden sinkt.» Der Wanderer erschrak und auf Nachfrage der weisen Frau stellte er fest, dass er nun keinerlei Schmerz oder Wut mehr empfand. Sogleich aber kam ihm der Gedanke: «Aber – aber was wäre, wenn ich mich über den Tod dieses Menschen freuen würde? Wenn ich ihm nicht verzeihen könnte?», worauf die weise Frau antwortete: «Dann verzeih dir wenigstens selber deine Unversöhnlichkeit. Und in dieser Vergebung wirst du das Mitgefühl finden, das deinen Schmerz heilt, als Mensch in dieser Welt zu leben.».
Weiter erinnert uns die weise Frau daran, dass wir alle, während wir hier auf der Erde sind, Träume, Hoffnungen und Enttäuschungen haben; und dass diese, sowie letztlich der Tod, uns alle verbinden.
Es ist ein Prozess
Dan Millman sagt hier in Gestalt der Weisen Frau, dass Mitgefühl bei uns selbst beginnt und diesen Aspekt möchte ich noch einmal hervorheben. Es kann nämlich passieren, dass wir uns in einer oberflächlichen Vergebung wieder finden, weil wir meinen, es sei richtig und moralisch anderen zu verzeihen, ohne aber die tieferen Schichten dabei zu fühlen. Das ist dann leider nichts anderes, als Verdrängung. Gerade wenn wir selbst Opfer von Ungerechtigkeit, physischer oder mentaler Gewalt wurden, ist es unerlässlich den Heilungsweg in Gänze zu durchschreiten, und in den Wachstumsprozess zu verwandeln, der uns Mitgefühl und Weisheit lehrt. Und dazu gehören die Wut auf das Begangene, die Verzweiflung, die Ungerechtigkeit und Ohnmacht zu fühlen, uns auf «unsere Seite» zu stellen und Partei für uns selbst zu ergreifen, bevor es ernstlich möglich wird, zu verzeihen. Zunächst fühlen wir mit uns selbst den Schmerz und befreien die Gefühle, die wir uns möglicherweise nie trauten zu fühlen, all die Wut und den Groll. Erst später kann dann aus dem Inneren heraus das weitere Erkennen stattfinden und Heilung und Vergebung geschehen.
Vergebung findet im Herzen statt
Die hier in diesem Text von mir aufgeführten Perspektiven sind nur zwei, drei kleine Beispiele für Sichtweisen, die man einnehmen könnte, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Sie sollen niemanden von irgendetwas überzeugen, sondern als Anregung dienen. Denn letztlich geht es darum, Vergebung in sich selbst zu finden. Vergebung ist also etwas, das aus dem Inneren heraus entsteht; ein Ergebnis eines tiefen Verständnisses und Fühlens, ja eines Erkennens. Auf dieser Reise gehen wir unterschiedliche Blickwinkel und Versionen ab, bis wir im Herzen ankommen, es sich öffnet und wir plötzlich «klar» sehen. Daraufhin breitet sich Wärme im Körper aus, Liebe durchströmt uns, begleitet möglicherweise von einem Gefühl leiser Euphorie, möglicherweise auch einem leichten Schmerz und Tränen – sowohl ein paar der Traurigkeit als auch welchen der Dankbarkeit. Das Loslassen und die Befreiung sind spürbar und nur für jeden persönlich erfahrbar, der sich auf diesen Weg begibt und seine individuelle Ansicht findet, die ihn befreit und erlöst.
Meiner Meinung nach bedeutet also Vergebung eine Öffnung des Herzens, ein Erkennen und ein Hineinwachsen in die Perspektive der Liebe. Sie ist nicht auf rationaler Ebene zu finden; die rationale Ebene kann nur dabei helfen, den Weg zum Mitgefühl zu beschreiten, denn:
«Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.»
– Antoine de Saint-Exupéry
Im zweiten Teil zum Thema «Mitgefühl und Vergebung» werde ich anhand eines Beispiels noch ein bisschen näher auf die «praktischere», persönlichere Ebene eingehen. Denn häufig sind es gar nicht die großen «unverzeihlichen» Taten, die wir mit uns herum tragen, sondern alltäglichere Situationen, wie die Wut auf einen Freund, Angehörigen oder Chef.
Ich hoffe, der Text konnte euch einige Inspirationen für Perspektivwechsel bieten und vielleicht habt ihr diese Herzöffnung ja selbst schon einmal erlebt ? Wenn ihr jemanden kennt, dem der Beitrag helfen oder gefallen könnte, teilt ihn doch gerne mit demjenigen. Und falls ihr mich unterstützen mögt, könnt ihr das hier. :-) Vielen Dank und alles Liebe, Anna.
Danke für diesen tollen Text, liebe Anna!