«Der große Jammer mit den Menschen ist, dass sie so genau wissen, was man ihnen schuldet, und so wenig Empfindungen dafür haben, was sie anderen schulden.»
– Franz von Sales
In den ersten beiden Teilen der Reihe «Mitgefühl und Vergebung» ging es darum, Wege zu finden, mit unserem Gegenüber, unserem «Widersacher» oder sogar der Menschheit an sich, weich zu werden, Verständnis zu finden, uns selbst vom Groll zu befreien und Frieden zu schließen. Doch wie ist das eigentlich andersherum?
Mitgefühl und Vergebung – Eine Sache der Perspektive? Teil 1 Mitgefühl und Vergebung – Worum geht es wirklich? Teil 2
Denn was bei all den Gedanken über das Verzeihen und Mitfühlen nicht fehlen darf, ist, sich selbst zu vergeben und auch, sich selbst zu entschuldigen. Häufig wissen wir zwar schnell, auf wen wir noch wütend sind, welchen Schmerz wir noch nicht loslassen konnten, – obwohl natürlich auch einige Wunden tiefer verschüttet sind – gleichwohl kann es noch etwas undurchsichtiger werden, wenn wir uns selbst einmal ehrlich fragen, wen wir verletzt haben, wem wir etwas schuldig geblieben sind. Denn das ist die Kehrseite der Medaille: Ich glaube, dass niemand von uns komplett ohne Schuld ist.
Zwar ist es einfacher, im Außen Verantwortliche für alles mögliche zu finden, wie zum Beispiel das Unrecht in der Welt oder unsere eigenen verletzten Gefühle, da es häufig auch offensichtlicher ist, es lenkt uns aber auch gerne von den eigenen Schattenanteilen ab. Häufig werden wir sogar leider erst mit unseren eigenen Schuldgefühlen konfrontiert, wenn es zu spät ist; beispielsweise wenn es um Trennungen geht – oder wenn jemand Geliebtes stirbt. Erst dann zeigen sich bei den meisten Momente und Gefühle des Bereuens, des Bedauerns, des Wieder-gut-machen-Wollens.
Sehr viele Menschen, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben, berichten, dass, als ihnen ihr eigenes Leben im Panoramablick gezeigt wurde, sie alle Situationen aus Sicht der Menschen fühlten, mit denen sie interagiert hatten. Also dass sie spätestens da merkten, in welchen Situationen ihre Worte und ihr Verhalten andere verletzten.
Andererseits gibt es auch Menschen, die von Schuldgefühlen förmlich zerfressen werden. Sie nagen an ihnen und ihrem Gewissen und manche werten sich selbst zutiefst ab, bis hin zum Selbsthass. Hier stellt sich die Frage, wie wir uns selbst helfen können, uns selbst ent-schuldigen können. Oder kann das nur derjenige, demgegenüber wir Schuld empfinden?
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Es tut mir leid
Wo wir können, sollten wir uns selbstverständlich entschuldigen und um Vergebung bitten. Nicht nur für uns selbst, sondern auch für den anderen. Wer das schon einmal ehrlich getan hat, weiß, wie schwer das sein kann und wem wiederum schon einmal eine wirklich ernstgemeinte Entschuldigung entgegen gebracht wurde, weiß, wie heilsam und tief berührend sie sein kann.
Viel zu häufig werden Entschuldigungen nämlich nicht ganz so ernst gemeint; wir werfen mit Wortschnipseln um uns, ein kurzes «Sorry» nuscheln wir in den Hemdkragen, drehen uns vielleicht noch dabei weg oder nutzen sie als Floskel, weil es sich «so gehört». Ebenso alltäglich finden wir das berühmte: «Tut mir ja leid, aaaber…» plus Rechtfertigung und möglicherweise sogar Gegenvorwürfen.
Das meine ich nicht, ich meine das ehrliche Entschuldigen. Das reine Schuldeingeständnis, die hundertprozentige Verantwortungsübernahme für das eigene Verhalten – wie oft erlebst du diese? Von anderen sowie von dir selbst. Es gehört nämlich schon eine ganze Portion Mut und innere Größe dazu, sich seiner Fehltritte bewusst zu sein, diese zuzugeben – und zwar vor sich selbst und zudem vor demjenigen, dem man auf den Fuß getreten ist –, ihm tief in die Augen zu schauen und zu sagen: «Es tut mir leid». Ohne Erwartung, ohne Rechtfertigung. Im tiefen Einverständnis mit allen Konsequenzen.
Es braucht deshalb so viel Mut, weil es schmerzhaft und beängstigend sein kann. Weil wir uns dem anderen hingeben und unsere «Waffen» niederlegen. Es kann sein, dass die andere Person die Entschuldigung nicht annimmt, oder unser Eingeständnis sogar gegen uns verwendet, aber Größe zu haben, bedeutet auch, dies zu akzeptieren und sich dem ungewissen Ausgang zu stellen, die Machtkämpfe sein zu lassen und dem anderen das Zepter in die Hand zu geben.
Eine ehrliche Entschuldigung kommt von Herzen, nämlich, wenn wir gespürt haben, was wir dem anderen angetan oder zugemutet haben. Sie braucht wahres Mitfühlen und Erkennen sowie die Bereitschaft, das eigene Ego beiseite zu schieben. Dies kann zu Frieden führen – je nachdem, was jeder der Beteiligten für sich daraus macht und was vorgefallen war selbstverständlich –, aber derjenige, der sich entwaffnet, wird das Schlachtfeld auch verlassen und sich sich selbst und seinem Verhalten widmen, um in Zukunft von vornherein mitfühlender und achtsamer sein zu können.
Denn wenn ich lerne, mein Gegenüber zu spüren und mit ihm in Verbindung zu gehen, spüre ich am eigenen Leib die Verletzungen und wenn ich bereit bin, die Verantwortung zu übernehmen, gelange ich zu dem Gefühl des Bedauerns, beispielsweise, wenn ich die Konsequenz einer Trennung, tragen muss. Dadurch entsteht in mir ein intrinsisches Bedürfnis, in Zukunft liebevoller und achtsamer mit meinen Mitmenschen umzugehen.
„Es scheint wirklich den Menschen nur eine Hoffnung zu geben: Zwar nicht die Welt und die anderen, aber wenigstens sich selbst einigermaßen ändern und bessern zu können; und auf denen, die das tun, beruht im geheimen das Heil der Welt.“
―Hermann Hesse
Eine wahre Entschuldigung impliziert also die empathische Verbindung mit dem anderen und führt somit zu Selbsterkenntnis, wodurch in der Regel eine persönliche Aufarbeitung und Veränderung des eigenen Verhaltens folgt, während Vorwürfe nach außen hin üblicherweise darauf abzielen, den oder die anderen ändern zu wollen.
Sich selbst vergeben
Was aber passiert, wenn der andere uns nicht vergeben möchte, oder wir denjenigen, demgegenüber wir uns schuldig fühlen nicht erreichen können oder auch, wenn wir nicht einmal wissen, weswegen oder ob, wir uns schuldig fühlen, weil die Gefühle oder Erinnerungen zu weit im Unterbewusstsein vergraben wurden?
In einer sehr fragilen Phase während meines Heilungsprozesses wandte ich mich an «Gott», an das Universum, und fragte verzweifelt: «Vergibst du mir?», und die Antwort war: «Vergibst du dir denn selbst?».
Was für eine Antwort. Was für eine Frage ja viel mehr - und doch auch gleichzeitig so viel Antwort. Warum braucht es einen anderen, um mir meine Schuldgefühle zu nehmen und vor allem, wie kann das gehen? Es sind meine Gefühle, mein Körper, meine Seele, mein Gewissen und wenn ein Anteil in mir sich plagt, ist es vielleicht doch einzig auch meine Aufgabe, ihn zu heilen und zu befreien? Aber kann ich das? Habe ich denn diese Macht? Darf ich das? Oder muss ich es vielleicht sogar? Was wäre, wenn das Universum «Ja» gesagt hätte? Hätte es vielleicht gar nichts an meinen Gefühlen geändert, weil das, was ich selbst glaube und das, was ich selbst von mir halte, vielleicht schwerer wiegt, als das, was ein anderer sagt? Hätte ich ihm überhaupt geglaubt? Letztlich war es ja «nur» meine eigene innere Stimme, die ich vernahm.
Aber ja, ich erkannte, dass, wenn ich die Macht habe, mich zu verurteilen und zu strafen, wohl auch nur ich die Macht habe, gnädig und versöhnlich mit mir zu sein. Und so machte ich mich auf den Weg, herauszufinden, wie ich selbst meine Schuldgefühle auflösen konnte und werde versuchen, im Folgenden die Essenzen daraus zu vermitteln, in der Hoffnung, dass vielleicht jemand etwas daraus für sich mitnehmen kann.
Mir ging es fast mein Leben lang so, dass mir bei jeder kleinsten Kleinigkeit Adrenalin samt Wut auf mich selbst durch den Körper schossen. Nahezu permanent war mein innerer Kritiker parat, mich innerlich niederzumachen für: Einfach alles.
Eines Tages saß ich mit mir da und forschte nach den Ursachen. Ich fragte mich, woher all dieser Selbsthass kam und ich dachte, dass es doch eigentlich nur Sinn ergibt, sich selbst so sehr zu verabscheuen, wenn man der absolut böseste Mensch der Welt sei. Wie viel Schuld und Missetaten müsste ein anderer begehen, um ihm gegenüber auch nur annähernd so unversöhnlich zu sein, wie mir selbst gegenüber? Und mir wurde klar, dass es unter der Wut auf mich selbst unter anderem um Schuld ging.
Ich wusste nicht recht, womit ich mich so unsagbar schuldig gemacht hatte, aber eine vorsichtige Stimme in mir schlug vor, dass ich es doch eventuell im Laufe all der Jahre abgebüßt haben könnte, dass ich mich doch genug gegeißelt haben könnte, – oder? Eigentlich empfand ich sogar ein kleines bisschen Mitgefühl mit mir selbst, mit meinem inneren Kind, meiner kleinen Anna. Was habe ich ihr, was habe ich mir eigentlich damit angetan? Das tat mir dann schon irgendwie leid. Und ich bat sie – und mich – um Verzeihung.
Intuitiv sprach ich die Worte: «Es tut mir leid!» mehrfach hintereinander laut aus, und mit jedem Mal tat es zunächst mehr weh. Erstaunlicherweise zeigten sich mit der Zeit von ganz allein innere Bilder und Situationen aus der Vergangenheit, die mir leid taten – sowohl mich selbst betreffend, als auch andere Situationen und Personen –, was zu Mitgefühl, Bedauern und auch Scham- und Schuldgefühlen führte. Wieder einige Zeit später verschwanden nach und nach die belastenden Emotionen und Bilder und ich wiederholte meine Worte so lange, bis es nicht mehr weh tat.
Daraufhin sprach ich laut aus: «Es ist ok, ich verzeihe dir», und auch das so oft, bis keine Bilder mehr kamen und bis es nicht mehr weh tat.
Diese Perspektivwechsel, also sowohl der Empfänger als auch der Sender zu sein, lernte ich zuvor in einer anderen Situation, die ich in diesem Video näher beschreibe.
Als nächstes sagte ich laut: «Mir wird vergeben», ebenfalls mehrmals und bis alle Tränen des Unglaubens, der Dankbarkeit und Erleichterung, getrocknet waren, und ich etwas Sonderbares empfand: es war warm und weich in mir, irgendwie entspannt. Ich fühlte mich wohl. Und mit einem kurzen Schreck identifizierte ich dieses Gefühl als (Selbst-)Liebe. Huch! Ich !? Ja, das war ich. Da war also dieser Frieden, diese Liebe in mir, für mich. Und auch für die Welt und die Menschheit, bei der ich mich ebenfalls entschuldigte – und ihnen verzieh, weil zumindest ein Anteil in mir schon immer damit haderte, Mensch zu sein. Aber seit dem Tag freunde ich mich zunehmend damit an und ich entdecke immer schönere Seiten am Leben –und auch an mir selbst.
Es macht einen unbeschreiblichen Unterschied, wie sich die Welt im eigenen Körper anfühlt und wie ich sie durch meine eigenen Augen sehe – je nachdem, wie meine Einstellung zu ihr und vor allem auch zu mir selbst ist.
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Gibt es Schuld denn überhaupt?
Einige Leute sagen, Schuld gibt es überhaupt nicht. Und auch, wenn ich hier so ausführlich darüber schreibe, denke ich das ebenfalls. Wie passt das zusammen und wie kann diese Perspektive helfen?
Genauer gesagt, ist meine Antwort auf die Schuldfrage: Ja und Nein. Denn auf der einen Seite gibt es Schuld definitiv, in diesem Gefühl kenne ich mich ja sehr gut aus und auch unser Rechtssystem arbeitet mit Schuld. Andererseits, wenn ich mir die Natur ansehe – und die Menschheit und ihre Gedankenkonstrukte, Vereinbarungen und Gefühle ausblende –, komme ich persönlich zu dem Ergebnis, dass es keine natürliche Schuld gibt. Sondern, dass Schuld ein menschliches Konzept ist und außerhalb dessen, das heißt, wie gesagt in der Natur, aber möglicherweise auch auf Seelenebene oder erst recht einem bedingungslos liebenden «Gott» oder Universum gegenüber, irrelevant wird.
Diese Grundlage ist bedeutend für die folgende Situation, denn der eine Teil des Heilungsprozesses besteht darin, die alten Gefühle zu durchfühlen, um sie loszulassen, der andere beschäftigt sich mit den dahinterstehenden Glaubenssätzen.
Eingangs erwähnte ich die Situation, dass einem im Trauerprozess um eine geliebte Person Schuldgefühle begegnen können – so auch mir. Die Gefühle und Gedanken dazu waren derart quälend, dass es sich höchstwahrscheinlich nur jemand ausmalen kann, der bereits ähnliches durchleben musste. Denn das Gefühl, Schuld am Tod der geliebten Person zu sein, zerreißt einen innerlich in Stücke. Und obwohl ich mir auf anderer Ebene bewusst war, dass ich in Wirklichkeit natürlich nicht Schuld daran war, da ich ja keinen Mord begangen und auch nicht seine Krankheit verursacht habe, kamen mir immer wieder Bilder vor Augen, die mir Momente zeigten, in denen ich vielleicht doch noch etwas mehr oder weniger hätte sagen oder tun können, um den Krankheitsverlauf möglicherweise doch noch irgendwie zu beeinflussen.
Auch mein Glaube daran, dass eine Seele geht, wenn sie bereit dafür ist und nur sie selbst weiß, wann ihre Zeit gekommen ist und warum, konnte mir die Bilder und Gefühle nicht nehmen. Es fühlte sich an, als wäre etwas Zerstörerisches in mir, das an mir zerrte, das mich von innen her auffraß und möglicherweise kein Teil meiner selbst zu sein schien, bis ich mich eines Tages schluchzend vor den Spiegel stellte, mich zwang, mir in die Augen zu sehen und laut zu mir zu sagen: «Ich glaube nicht an Schuld! Schuld ist ein Konzept der Menschen. In der Natur gibt es keine Schuld. Ich glaube nicht an Schuld. Schuld ist ein Konzept der Menschen, …» und so weiter.
Es kostete wahnsinnig viel Kraft, diese Sätze auszusprechen, weil die Energie der Schuld, in der mein Körper feststeckte, genau gegenteilig schwang und der größte Teil in mir in dem Moment davon eingenommen war. Ich musste also enorme Kraft aufbringen, diese Worte auszusprechen, um diesen kleinen Funken der Liebe in mir durchzusetzen und es war, als würde ich gegen einen Orkan gegen angehen. Aber auch hier wurde mit jeder Wiederholung der Schmerz der Schuld und des Widerspruches zwischen diesen beiden Anteilen zunächst erträglicher und dann immer weniger, bis ich irgendwann ruhig dort stehen und die Sätze aussprechen konnte.
Dies ist sicherlich eine besondere Situation in Bezug auf «Mitgefühl und Vergebung». Vielleicht findet sich aber dennoch jemand in dieser oder einer ähnlichen Situation wieder, in der die alten Glaubenssätze im Gegensatz zur Entwicklung im Heilungsprozess stehen oder jemand ist sogar ähnlich strukturiert – und daher anfällig für Schuldgefühle –, wie ich. Daher entschied ich mich dafür, den Absatz doch noch mit aufzunehmen.
Leben heißt Lernen – Fazit
«Das Leben eines jeden Menschen ist ein Weg zum eigenen Ich, der Versuch eines Weges, der Entwurf eines Weges.» – Hermann Hesse
In gleicher Weise, wie ich lerne, mich zu fühlen und mir selbst zu vergeben, erfahre ich, dass ich auch aufhöre, andere für meine Gefühle verantwortlich zu machen und, dass es mir auch automatisch sehr viel leichter fällt, mich in andere hineinzuversetzen, ihnen versöhnlich zu begegnen und ihnen ihr Leben, ihr Verhalten und ihre Lernaufgaben zuzugestehen.
Interessanterweise entdeckte ich auch, dass, in den meisten Fällen, in denen sich noch Ärger auf andere Personen offenbarte, ich, bei näherem Hinsehen, eigentlich mir selbst noch nicht vergeben hatte. Wenn Gedanken kamen, wie: «Wie konntest du dich mir gegenüber so ungerecht und respektlos verhalten? Wie konntest du mich so verletzen?», sah ich, dass ich diejenige war, die sich so hat behandeln lassen. Dass ich diejenige war, die mich nicht beschützt hat, die mich verletzt und im Stich gelassen hat.
Es ist ein tiefer, innerer Prozess, sich kennen- und verstehen zu lernen. Sich selbst zu vergeben, bedeutet auf der einen Seite, sich Vergangenes zu vergegenwärtigen, mitfühlend auf unser jüngeres Ich zu schauen und zu verstehen, dass wir, aus unserem damaligen Wissen und Verständnis heraus, so gut gehandelt haben, wie wir konnten. Im Nachhinein wissen wir oft mehr und wir bereuen und ärgern uns, doch in dem Zauber dieses Prozesses erkennen wir, dass wir stetig dazulernen und wachsen und in der Vergangenheit noch nicht sehen konnten, was wir jetzt sehen. Im Hier und Jetzt haben wir die Möglichkeit, uns neu zu entscheiden, immer wieder.
Zudem geht der Weg zum inneren Frieden darüber hinaus, als «nur» mit vergangenen Situationen und Versionen von uns Frieden zu schließen; er bedeutet in jedem Moment, mit dem, was sich in uns zeigt, mit allen Gedanken und Gefühlen, versöhnlich und liebevoll umzugehen, weich mit ihnen – mit uns selbst – zu werden und Mitgefühl auch in die verschleiertsten und ungeliebtesten Bereiche unseres Selbst zu bringen.
Im ersten Teil von «Mitgefühl und Vergebung» zitierte ich C.G Jung, der fragte: «Was aber, wenn ich nun entdecken sollte, daß der armselige Bettler und der unverschämteste Beleidiger alle in mir selber sind und ich bedürftig bin, Empfänger meiner eigenen Wohltaten zu sein? Daß ich der Feind bin, den ich lieben muß - was dann?». Und ich glaube, eine Antwort darauf könnte sein, dass wir uns genau dann auf dem Weg heimwärts befinden. Dass wir, wenn wir uns unseren eigenen Anteilen stellen und lernen, die Perspektiven zu wechseln, erkennen, dass wir einander mehr ähneln, als wir glaubten.
Auf dem Weg zu sein, bedeutet auch, dass wir weiterhin «Fehler» machen werden, die uns dann unser zukünftiges Ich liebevoll vergeben wird.
«Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen, ist nie einseitig. Nie ist ein Mensch, oder eine Tat, ganz Sansara oder ganz Nirvana, nie ist ein Mensch ganz heilig oder ganz sündig. Es scheint ja so, weil wir der Täuschung unterworfen sind, dass Zeit etwas Wirkliches sei. Zeit ist nicht wirklich, Govinda, ich habe dies oft und oft erfahren. Und wenn Zeit nicht wirklich ist, so ist die Spanne, die zwischen Welt und Ewigkeit, zwischen Leid und Seligkeit, zwischen Böse und Gut zu liegen scheint, auch eine Täuschung.
…Nein, in dem Sünder ist, ist jetzt und heute schon der künftige Buddha, seine Zukunft ist alle schon da, du hast in ihm, in dir, in jedem den werdenden, den möglichen, den verborgenen Buddha zu verehren. Die Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen, oder auf einem langsamen Wege zur Vollkommenheit begriffen: nein, sie ist in jedem Augenblick vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle Sterbenden das ewige Leben.
…Mögen die Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin alsdann ja Schein, und so sind sie stets meinesgleichen. Das ist es, was sie mir so lieb und verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben. Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein.
Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.»
– Hermann Hesse, Siddartha*
Ich wünsche euch allen versöhnliche Ostern. Alles Liebe, Anna
Mit der Reihe «Mitgefühl und Vergebung» konnte ich euch hoffentlich ein oder zwei neue Perspektiven aufzeigen, die möglicherweise Puzzlestücke für euren eigenen Prozess sein können. Wenn ihr jemanden kennt, dem der Beitrag gefallen oder helfen könnte, teilt ihn doch gerne mit demjenigen und wenn ihr mich unterstützen möchtet, könnt ihr das mit einem Abo oder hier via Paypal – Vielen Dank.
*https://www.sinndeslebens24.de/klassiker-siddhartha-von-hermann-hesse
Meinen Text: «Kollektives Erwachen»: Flucht oder Ausweg? gibt es jetzt auch auf YouTube zum nachhören.